Eisige Naehe
merken, dass wir da sind. Ich leg jetzt mal los und halte Ihnen die Meute vom Hals.«
»Na, ordentlich was verunreinigt?«, fragte ein sichtlich übelgelaunter Tönnies, der Leiter der Spurensicherung, mit mürrischem Gesichtsausdruck, ohne ein Wort der Begrüßung zu verlieren.
»Nee, wir haben unsere Handschuhe an, garantiert keim- und Fremd-DNA-frei. Das Verunreinigen überlassen wir lieber euch. Habt ihr denn heute auch die passenden Wattestäbchen und Handschuhe dabei?«, begrüßte ihn Henning mit herausforderndem Grinsen. Tönnies winkte genervt ab und reckte den rechten Mittelfinger in die Höhe. »Mir kommen gleich die Tränen vor Lachen. Wollt ihr das jetzt jedes Mal bringen, wenn wir einen Tatort untersuchen?«
»Nur heute. Seit vorgestern ist es ja offiziell, dass es das Phantom nicht gibt, sondern nur jemand die Wattestäbchen in der Fabrik betatscht hat. Und das über so viele Jahre hinweg, ohne dass es jemandem aufgefallen ist. Das ist schon ein ziemlich übler Schiet, oder?« »Tja, möglich ist alles«, erwiderte Tönnies mit einer Stimme, die Santos aufhorchen ließ, es klang, als würde er an die seit einigen Wochen kursierende Version nicht glauben. Es hatte mit der Vermutung eines Rechtsmediziners, der hohes Ansehen genoss, begonnen und schließlich immer weitere Kreise gezogen, bis am Freitag ein öffentliches Statement seitens des Innenministers allen bisherigen Spekulationen ein Ende gesetzt hatte. Das Phantom, das für mindestens zwölf Morde und unzählige weitere Delikte von Einbruch bis Raubüberfall und schwere Körperverletzung verantwortlich gemacht worden war, existierte nicht. Damit war der Fall gelöst - und der gesamte Polizeiapparat blamiert. Die Morde und anderen Taten allerdings waren damit keinesfalls aufgeklärt, der oder die Täter liefen weiter frei herum, und die Ermittlungen würden von vorn beginnen, wie der Innenminister bedauernd betont hatte. »Unser Zeug ist jedenfalls so steril, steriler geht's nicht.«
»Das haben die anderen jahrelang auch gedacht. Und dann?«, ließ Henning nicht locker.
»Shit happens, und das nicht nur bei uns, lieber Sören. Außerdem lass dir gesagt sein, noch ist längst nicht bewiesen, dass wir es mit verunreinigtem Material zu tun hatten, es gibt nur die Vermutung zweier selbsternannter Experten, von denen ich ehrlich gesagt nicht viel halte, und die Aussage eines Staatsanwalts, dass in dieser Richtung ermittelt würde.«
»Und die Pressekonferenz des Innenministers vorgestern? Wenn der sagt, die Wattestäbchen waren verunreinigt, dann waren sie verunreinigt«, hielt Henning dagegen.
Tönnies lächelte müde und antwortete mit einem sarkastischen Unterton: »Tja, wenn der das sagt, dann muss es wohl stimmen.«
»Du glaubst also nicht an die offizielle Version?«, mischte sich nun Santos ein, die ebenfalls große Zweifel an der Behauptung hegte, dass verunreinigte Wattestäbchen für die seit Jahren erfolglosen Ermittlungen verantwortlich sein sollten.
Tönnies fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und erwiderte mit der ihm eigenen Bissigkeit: »Liebste Lisa, eigentlich wollte ich mich aus dieser ganzen Sache raushalten und nie wieder einen Ton darüber verlieren, aber wie ich sehe, geht das nicht. Aber sei versichert, ich habe in meiner Laufbahn schon so viel Scheiße und Lügen erlebt, ich glaube gar nichts, solange mir nicht hieb- und stichfeste Beweise vorgelegt werden. Nur weil sich unser oberster Dienstherr hinstellt und irgendeinen eloquenten Mist von sich gibt, heißt das noch längst nicht, dass es tatsächlich so ist. Wie heißt es doch so schön: Nichts ist, wie es scheint. Mir scheint, hier ist ganz und gar nichts so, wie es scheint. Sorry für die Komplizierung, aber du hast mich bestimmt verstanden. Doch wir sind ja wohl nicht hier, um zu diskutieren, sondern um zu arbeiten. Lasst uns endlich ein paar Fotos schießen und anschließend unseren werten Herrn Leichenbeschauer seine Arbeit machen. Danach bitte ich alle, die nicht zu meiner Truppe gehören, zügig diesen Raum zu verlassen, damit auch wir ungestört...« »Ist schon gut. Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden?«, fragte die gut einen Kopf kleinere Santos und lächelte Tönnies von unten herauf an, ein Lächeln, dem er sich nicht entziehen konnte, auf seinen Lippen zeichnete sich für den Bruchteil einer Sekunde ebenfalls ein Lächeln ab, das aber sofort wieder verschwand. »Bin ich nicht, ich hasse es nur, wenn am Sonntag Leichen in der Gegend rumliegen
Weitere Kostenlose Bücher