Eisige Schatten
kaum älter als Mitte vierzig gewesen sein kann, als ich sie zum ersten Mal so durch die Straßen streifen sah.«
»Jetzt sieht sie wie siebzig aus«, murmelte Cassie.
»Ich weiß, aber sie ist jünger. Als junge Frau war sie berühmt für ihre Stickkunst. Anscheinend stickt sie in hellen Momenten immer noch, denn ihr Sohn verkauft beim Kirchenbasar jedes Jahr ein paar ihrer Stickereien.« Abby hielt inne und fügte dann hinzu: »Ich sollte ihn besser anrufen. Sie scheint zwar nie vor Autos zu laufen oder sich sonst zu verletzen, aber sie ist nicht warm genug angezogen, um draußen herumzulaufen.«
Lucy Shaw trug verblichene, an den Knöcheln ordentlich hochgekrempelte Jeans und eine Baumwolljacke über einem T-Shirt. Ihre nackten Füße schlappten in alten, nicht zugeschnürten Reeboks. Ihr größtenteils graues Haar war unordentlich, aber nicht strähnig, und sie war fast schmerzhaft dünn.
Sie betrat den Gehweg, der zum Sheriffdepartment führte. Die Straße entlang war sie mit gleichmäßigem Schritt gegangen, aber jetzt bewegte sie sich viel schneller, bückte sich nur einmal, um das aufzuheben, was ihr Geist für so wichtig hielt. Die eine Hand hielt sie dicht vor den Körper gewölbt, als trüge sie darin kleine Gegenstände, und die andere lag schützend darüber. Sie blieb am Fuße der Stufen stehen, richtete sich auf und starrte die beiden Frauen mit leeren Augen an.
Freundlich sagte Abby: »Miss Lucy, Sie sollten an so einem kalten Tag nicht draußen sein.«
Der Blick ihrer verblassten blauen Augen schärfte sich, richtete sich einen Moment auf Abby, dann auf Cassie. »Sie sind überall.« Ihre Stimme war papierdünn und wisperig. »Überall verstreut. Ich muss sie aufheben.«
»Natürlich müssen Sie das«, erwiderte Cassie leise.
»Sie verstehen es?«
»Ja. Ja, selbstverständlich.«
»Es war nicht meine Schuld. Ich schwöre, dass es nicht meine Schuld war.«
»Niemand wirft Ihnen etwas vor«, besänftigte Abby.
»Sie wissen es nicht.« Die bleichen Augen kehrten zu Cassies Gesicht zurück. »Aber Sie wissen es. Sie kennen die Wahrheit, nicht wahr? Sie können das Gesicht sehen, das er vor allen anderen verbirgt. Sein wahres Gesicht.«
Cassie und Abby wechselten fragende Blicke, dann fragte Cassie: »Wer verbirgt sein Gesicht, Miss Lucy? Von wem reden Sie?«
»Von ihm.« Sie beugte sich vor und flüsterte ängstlich: »Er ist der Teufel.«
»Miss Lucy …«, setzte Abby an.
Lucy Shaw packte Cassies Knie plötzlich mit unerwarteter Kraft. »Halten Sie ihn auf«, zischte sie. »Sie müssen.«
Cassie schnappte nach Luft und starrte in die Augen der alten Frau.
Dann, so abrupt, wie es begonnen hatte, war Lucy Shaws heller Moment vorbei. Über ihre Augen schien sich ein Film zu legen, und ihre Hand rutschte von Cassies Knie. Sie machte einen Schritt zurück, die Hände wieder schützend vor ihrer Taille gewölbt, und sagte gereizt: »Ich muss sie aufsammeln. Alle. Ich muss …«
Rasche Schritte näherten sich, und ein dünner Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Lucy Shaw hatte, griff nach ihrem Arm. »Mama. Komm mit nach Hause, Mama.«
»Ich muss sie aufsammeln«, sagte sie besorgt zu ihm.
»Ja. Wir sammeln sie alle zu Hause auf, Mama.«
Abby sagte: »Ich wollte Sie gerade anrufen, Russell.«
»Sie wollte Sie nicht belästigen.« Seine Stimme war ein wenig rau, sein Ton abwehrend.
»Das wissen wir, Russell, wir haben uns nur Sorgen um sie gemacht.«
»Danke.« Doch er musterte sie finster. Sein Blick glitt von Cassie weg, und der Griff um den Arm seiner Mutter wurde fester. »Komm jetzt«, sagte er erstaunlich sanft.
»Sie liegen überall verstreut«, murmelte sie traurig.
»Ja, Mama. Ich weiß.«
Die beiden erreichten das Ende des Gehwegs und gingen in die Richtung, aus der Lucy gekommen war. Als sie die Ecke erreichten, bogen sie ab und verschwanden.
»Wo wohnen sie?«, fragte Cassie.
»Zwei Straßen hinter der Main Street. Nicht weit von hier.« Abby schaute Cassie neugierig an. »Sie sind bleich geworden, als Lucy Sie berührte. Haben Sie – konnten Sie irgendwas sehen?«
Cassie antwortete nicht gleich, und als sie es tat, klang sie geistesabwesend. »Haben Sie jemals versucht, etwas in einem zersplitterten Spiegel zu erkennen?«
»Sieht ein verwirrter Geist für Sie so aus? Wie ein zersplitterter Spiegel?«
»Ihrer, ja.«
»Haben Sie irgendwas darin gesehen?«
»Nein, nichts deutlich genug, um es zu identifizieren. Außer …«
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