Eisige Schatten
getrocknet, aber Ben fühlte sich immer noch mies. Jedes Mal, wenn er den Kopf zu schnell drehte, wurde ihm schwindelig. Übelkeit stieg aus seinem Magen auf, und die paar Rufe in der vergeblichen Hoffnung, dass ihn jemand anderer als sein Entführer hören würde, hatten ihm nichts als weitere Schmerzen und Übelkeit gebracht. Kalt und steif, bewegte er immer wieder seine Finger, um völlige Taubheit abzuwehren und die Stricke zu lockern, mit denen seine Handgelenke an die Seitenlehnen des Stuhls gefesselt waren, auf dem er saß.
Er hatte jeden Zentimeter des Raumes mit Blicken überprüft, und da gab es nicht viel zu sehen. Der Raum war größtenteils leer, die beiden Fenster von schweren Vorhängen bedeckt, der uralte Teppich auf dem Boden fleckig und fadenscheinig. Ein weiterer Stuhl stand neben der geschlossenen Tür. Es gab einen Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte, das die Kälte ein wenig milderte; das einzige Licht stammte von einem unpassend eleganten Deckenfluter zwischen den Fenstern.
Mit Sicherheit konnte er also nur sagen, dass es dort, wo er festgehalten wurde, Strom gab, auch wenn der nicht für Wärme verschwendet wurde. Das und seine momentane Stellung verrieten ihm, dass sein Entführer sich keine großen Sorgen um das Wohlergehen seiner Geisel machte. Der Metallstuhl, an den Ben gefesselt war, stand mitten im Raum und war am Boden verschraubt, und mehrere Versuche hatten ihn davon überzeugt, dass es mehr als Muskelkraft bräuchte, ihn loszubekommen. Er war froh, dass seine Handgelenke einzeln an die Stuhllehnen gefesselt waren statt hinter seinem Rücken, doch wenn die Stellung auch bequemer war, bot sie keine zusätzliche Hebelwirkung, um den Stuhl aus dem Boden zu reißen.
Er meinte, die Stricke ein wenig gelockert zu haben. Oder war es nur Wunschdenken?
Der anfängliche Schock, hilflos zu sein, hatte sich schließlich gelegt, und er war nun von Wut und Verwirrung erfüllt. Furcht, dachte er, würde zweifellos später hinzukommen. Was seine Gedanken in den ersten langen Minuten der Stille beschäftigte, war die Frage, wer ihn genug hasste, um ihm so etwas anzutun.
Er hatte eine verschwommene Erinnerung daran, mit dem Jeep angehalten zu haben, um einen quer über die Straße gestürzten Baum wegzuräumen, aber darüber hinaus wusste er nichts mehr. Er konnte nur annehmen, dass jemand ihn von hinten mit etwas Schwerem niedergeschlagen hatte.
Aber wer?
Ben hatte durchaus einige Leute hinter Gitter gebracht, doch ihm fiel niemand ein, der einen so starken Groll hegte, um eine Entführung zu inszenieren. Auch der Zeitpunkt kam ihm äußerst merkwürdig vor. Wer würde alte Hassgefühle aufwärmen, wo praktisch jeder in der County ausgesprochen erleichtert darüber war, dass man den Serienmörder gefasst hatte?
Er bemühte sich weiter, die Stricke zu lockern, nützte es aus, allein im Raum zu sein, da er sich vorstellen konnte, dass das nicht von langer Dauer sein würde. Und das war es auch nicht.
Als der Mann ein paar Minuten später den Raum betrat und eine Art Rollwagen vor sich herschob, bedeckt mit einem weißen Tuch, bemerkte Ben als Erstes, dass es ein ihm völlig Fremder war. Der Mann war mittelgroß und drahtig, keine besonders kraftvolle Erscheinung, hatte glattes, helles Haar und die teigige Haut eines Menschen, der nicht viel Zeit an der frischen Luft verbringt. Das einzige Körpermerkmal, das Ben auffiel, waren die übergroßen Hände und Füße, die dem Mann etwas Lächerliches verliehen. Seine Gesichtszüge waren gleichmäßig, beinahe angenehm, und er deutete ein Lächeln an.
Ein Lächeln, das Ben plötzlich die Kälte im Raum bewusst machte.
»Hallo, Richter. So nennt man Sie doch, nicht wahr? Richter?« Seine Stimme war tief, der Ton liebenswürdig.
»Manche schon.« Alle Instinkte rieten Ben, einen klaren Kopf zu behalten und nicht in Zorn zu geraten, entspannt zu bleiben und mit ruhiger Stimme zu sprechen. Aber ihm standen die Nackenhaare zu Berge.
»Oh, ich glaube, das tun die meisten. Und ich glaube, es gefällt Ihnen.«
»Wie soll ich Sie nennen?«, fragte Ben.
Der Mann lächelte, zeigte ebenmäßige weiße Zähne. »Was liest man heutzutage überall auf T-Shirts? Bobs Frau, Bobs Boss, Bobs Bruder. Nennen Sie mich einfach Bob.«
»Okay, Bob. Sollte ich wissen, was ich getan habe, um Sie so zu verärgern?«
»Sollten Sie – tun es aber nicht.« Er holte den Stuhl von der Tür und stellte ihn vor Ben auf, ein paar Schritte entfernt neben dem bedeckten
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