Eisige Schatten
gesetzt worden, um ein starkes Gefühl auszulösen.
Dasselbe Gefühl hatte ich heute, oder fast dasselbe. Als sähe ich etwas, das aus einer schwarzen Hölle der Fantasie heraufbeschworen worden war. Nicht die Geister früherer Opfer, sondern mehr wie … eine Rollenbesetzung, die er sich vorstellte.«
»Die Geister zukünftiger Opfer?«, fragte Ben.
»Vielleicht.« Sie schaute ihn nicht an. »Aber es war mehr wie der … feuchte Traum eines heranwachsenden Psychopathen.« Noch als sie es aussprach, verspürte Cassie so etwas wie gequälten Humor. Sie mochte zwar jungfräulich sein, doch unschuldig war sie gewiss nicht. Eine Zeile aus einem alten Film schoss ihr durch den Kopf, irgendwas darüber, ein verkorkstes Mädchen zu sein.
Das traf auf sie zu.
Das Schweigen hielt ein wenig zu lange an, und es war Cassie, die es mit ruhiger Stimme unterbrach. »Wo ich jetzt darüber nachdenke, erinnerte mich die Szene, als sie auf mich zukamen, blutend und mit Körperteilen in der Hand, an einen Horrorfilm über reanimierte Tote, den ich vor Jahren gesehen habe. Unserem Mörder könnten solche Träume durchaus gefallen.«
»Jetzt sind Sie also in seinen Träumen?«, wollte Matt wissen.
»Könnte sein. Ich bin früh aufgestanden, und er hat vielleicht lange geschlafen. Und geträumt.«
»Und Sie haben diese Träume angezapft«, meinte Ben sehr leise.
Matt gab ein kleines Geräusch von sich, eine Mischung aus Erheiterung und Verzweiflung. »Sie machen es mir sehr schwer, irgendwas davon zu glauben, Cassie.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.« Sie drehte den Kopf und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Nichts ist jemals so einfach, wie Sie es gern hätten.«
»Wenn das nicht wahr ist. Hören Sie – wir kamen her, weil ich Sie bitten wollte, diesen Kerl noch mal anzuzapfen, aber offensichtlich …«
»Ich kann es versuchen.«
Ben sagte: »Sie zittern immer noch.« Cassie hielt ihren Blick abgewandt. »Mir fehlt nichts. Außer dass mir ein bisschen kalt ist, aber ich bin nicht mal müde.«
Matt schaute von ihrem Gesicht zu Ben und zögerte. »Wir können es auch auf morgen verschieben. Da draußen im Schnee zu liegen hat Ihnen bestimmt nicht gutgetan, egal, was es hervorgerufen hat.«
»Ich würde es lieber jetzt versuchen«, sagte Cassie mit gleichmäßiger Stimme. »Ich muss die Kontrolle darüber behalten, zumindest soweit es mir möglich ist. Ich muss diejenige sein, die den Kontakt herstellt.«
Matt wartete einen Augenblick, doch als Ben nicht widersprach, stimmte er mit einem Nicken zu. »Ich habe eine der Münzen dabei. Aber …«
»Aber?«
»Na ja, Ben meinte, Sie könnten diesen Kerl eventuell auch nach Belieben anzapfen, ohne etwas zu berühren, das er angefasst hat. Ich frag mich, ob Sie das vielleicht jetzt tun könnten.«
Cassie blickte zu Ben und reichte ihm dann den Becher zurück, wobei sie wieder darauf achtete, ihn nicht zu berühren. »Versuchen wir es.«
»Haben Sie das schon mal gemacht?«, fragte Ben mit leicht rauer Stimme.
»Nein. Noch nie. Aber da sein Unterbewusstes mich so leicht zu erreichen scheint, würde ich gern herausfinden, ob mir das gelingt.«
Matt verließ endlich den Kamin und zog sich einen Ohrensessel näher zum Sofa, von dem aus er Cassie gut im Blick hatte. Mit einem gemurmelten »Nur für alle Fälle« zog er ein Notizbuch und einen Stift heraus und setzte sich erwartungsvoll zurecht.
Ben stellte den Becher auf den Couchtisch, rückte aber auf dem Sofa nicht von seinem Platz bei Cassie fort.
Cassie steckte die Hände wieder unter die Decke, schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen, zu konzentrieren. Das fiel ihr schwer, wo Ben so nahe saß. Er klemmte sie praktisch auf dem Sofa ein, aber jahrelange Übung machten es ihr möglich, sogar diese ablenkende Erkenntnis von sich zu schieben.
Bilder hatten Cassie immer geholfen, sich auf das zu konzentrieren, was sie zu tun versuchte, obwohl der Vorgang durch das Festhalten eines Gegenstandes meist beschleunigt wurde und ihre eigenen Bilder rasch von den durch die Augen der Mörder gesehenen ersetzt wurden.
Diesmal beschwor sie das Bild eines Pfades durch einen friedlichen Wald herauf und begann ihm zu folgen. Nichts zerrte an ihr. Keine düstere Stimme flüsterte ihr etwas zu. Während sie ging, blickte sie sich um, interessiert, aber gelassen.
Wenn sie an einen Pfad kam, der in eine andere Richtung führte, ließ sie ihren Instinkt entscheiden, ob sie ihn einschlagen sollte, tat es manchmal oder ging daran
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