Eisige Schatten
vorbei. Das fröhliche Vogelgezwitscher verklang allmählich, und der Wald wurde dunkler.
»Cassie?« Bens Stimme, merkwürdig fern und hohl im Wald.
»Ich bin noch nicht da«, teilte sie ihm mit, sich vage bewusst, dass er mit ihr unterwegs war.
»Wo sind Sie?«
»Ich folge einem Pfad.« Sie merkte, wie sie die Stirn runzelte. »Einem seltsamen Pfad.«
»In welcher Weise?«
»Weiß nicht genau. Fühlt sich nur seltsam an.«
»Erzählen Sie es mir.«
Sie seufzte ein wenig ungeduldig. »Der Boden ist überall schwammig. Und es riecht wie … wie in einem schimmeligen Schrank. Und das Licht scheint aus zwei verschiedenen Richtungen zu kommen. Ich werfe zwei Schatten. Ist das nicht merkwürdig?«
»Hören Sie irgendwas?«
»Erst hab ich die Vögel gehört. Aber jetzt ist da nur die Musik.«
»Welche Musik?«
»Ich glaube, sie kommt aus einer Spieldose. Ich kann mich jedoch nicht an die Melodie erinnern. Ich sollte, aber ich kann es nicht.«
»In Ordnung. Wenn es Ihnen einfällt, sagen Sie es mir.«
»Mach ich.« Sie ging weiter, bemerkte ohne Beunruhigung, dass die Bäume um sie herum eigenartige, unnatürliche Formen annahmen. »Hm.«
»Cassie?«
»Was ist?«
»Wo sind Sie?«
Sie wollte gerade berichten, dass sie immer noch im Wald war, doch bevor sie es aussprechen konnte, kam sie an eine deutlich sichtbare Gabelung des Pfades. Ihr Instinkt hatte ihr dazu nichts zu sagen, daher warf Cassie in Gedanken eine Münze und schlug den nach rechts führenden Pfad ein.
»Cassie, reden Sie mit mir.«
»Da war eine Gabelung im Pfad. Zwei Wege zweigten in den Wald ab … ich bin nach rechts gegangen. Das ist der weniger begangene Pfad.«
»Cassie, ich glaube, es wird Zeit, dass Sie umkehren und zurückkommen.«
Sie merkte, dass er besorgt war, und versuchte, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. »Mir geht’s gut. Und außerdem bin ich fast da.«
»Was sehen Sie?«
»Eine Tür.«
»Mitten im Wald?«
Bis er ihr diese Frage stellte, hatte Cassie das nicht merkwürdig gefunden. Aber jetzt starrte sie auf die sehr große Tür, die anscheinend aus massiver Eiche bestand. »Hm. Ich könnte außen herumgehen, aber ich glaube, ich soll hindurchgehen.«
»Seien Sie vorsichtig.«
Es dauerte ein bisschen, den Knauf zu finden, vor allem, da es kein Knauf war, sondern ein geschickt im Holz verborgener Griff. Mit einem Gefühl des Triumphs drückte sie ihn nieder und schob dann die Tür auf.
Der Wald war verschwunden. Vor ihr erstreckte sich ein kahler Flur, von dem rechts und links Türen abgingen. Es roch noch mehr wie in einem lange vergessenen Schrank. Mit einem Seufzer trat sie ein.
»Cassie?«
»Da ist ein Flur mit vielen Türen. Ich gehe ihn hinunter. Verdammt. Das geht viel schneller, wenn ich einen Führer habe.«
»Einen Führer?«
»Irgendwas von ihm. Egal. Ich bin so weit gekommen, und …« Sie hatte eine Tür am Ende des langen Flurs geöffnet, und im selben Moment war die Reise beendet. »Oh.«
»Cassie? Was ist los?«
Kein Flur. Kein Wald. Keine angenehmen Bilder.
Nur ein niederdrückendes Gewicht um sie herum, die zermürbende Wahrnehmung eines anderen Bewusstseins, das ihres umgab, zu sehen, was er sah, weil ihr keine andere Wahl blieb.
»Er ist es.« Alle Spuren von Beruhigung und Leichtigkeit waren verschwunden.
»Wo ist er?«
»In einem Zimmer. Nur ein Zimmer. Zugezogene Vorhänge. Lampen. Da ist ein Bett. Er sitzt auf dem Bett.«
»Was macht er, Cassie?«
Sie war so plötzlich zu ihm durchgedrungen, dass sie befürchtete, ihre Anwesenheit preiszugeben, daher versuchte sie, sehr still und leise zu sein. »Er … macht etwas.«
»Was macht er?«
Sie schwieg ein paar Augenblicke, dann blieb ihr die Luft im Hals stecken. »Es ist ein Stück Draht mit Holzgriffen an beiden Seiten. Er macht eine Garrotte.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Ganz sicher. Ich … habe schon mal eine gesehen.«
»In Ordnung. Können Sie sich umschauen, Cassie? Können Sie uns mehr erzählen?«
»Ich kann nur das sehen, was er sieht, und er schaut auf seine Hände, betrachtet sie … streichelt die Waffe. Sie gefällt ihm.«
»Schauen Sie auf seine Hände. Sehen Sie sich die Hände genau an. Was können Sie uns darüber erzählen?«
»Jung. Stark. Keine Narben bis … auf die Innenseite beider Handgelenke. Er kaut Nägel, aber sie sind sauber. Sonst nichts.«
»Wissen Sie, was er denkt?«
»Ich habe Angst, zuzuhören.«
»Sie müssen«, befahl eine neue Stimme.
»Matt, halt dich da raus!
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