Eisige Versuchung
meine Vorväter.« Er lachte schallend. »Die frische Luft und die Nähe zur Natur haben uns über den Schmerz des Verlustes hinweggeholfen. Wir Ehrmans brauchen den Wald, das einfache Leben und die Stille.«
Shade nahm Platz. »Aber ist es nicht zuweilen einsam hier oben?«
Arthur warf einen wehmütigen Blick auf das Kleid. »Die Ehrmans sind alle hoffnungslose Romantiker. Wir verlieben uns nur ein Mal im Leben. Joan bekam schon mit zweiundsechzig Jahren Demenz. Sie lief mir immer wieder weg, weil sie zu ihrem Ehemann wollte. Mich erkannte sie oft nicht und dachte, ich wäre ein Fremder, der sie gefangen hielt. Das brach mir fast das Herz, aber was dann geschah, riss es auf ewig aus meinem Brustkorb heraus.«
Er trank direkt aus der Flasche, schraubte sie umständlich zu und setzte sich neben Shade. Verlegen lächelnd schob er den Bourbon von sich weg. »Einmal habe ich zu spät bemerkt, dass das Fenster im Erdgeschoss offen stand, sie musste hinausgeklettert sein. Ich fand Joan am Straßenrand. Blutüberströmt. Sie atmete nicht mehr. Jemand muss sie angefahren haben und geflüchtet sein. Ich wollte mich neben sie legen und sterben, aber so funktioniert es nun mal nicht.«
Shade wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Kloß in ihrem Hals war so dick, dass sie kaum schlucken konnte. Sie selbst war schon mehrmals verliebt gewesen, aber noch nie hatte sie so tief für jemanden empfunden, wie Art für Joan empfunden haben musste. Warum sie in diesem Moment ausgerechnet an Roque denken musste, wusste sie nicht. Er war kein Mann zum Verlieben, vermutlich nicht einmal ein Mann.
Dann fiel ihr ein, wieso er sich in ihre Gedanken schlich. Keiner hatte sie seit Langem so fasziniert wie er. Allein bei dem Gedanken an ihn beschleunigte sich ihr Puls. Er sah umwerfend aus, wie ein griechischer Gott, und selbst das Dunkle an ihm reizte sie. Sie wünschte sich, ihn noch einmal zu spüren, aber dieser Wunsch würde nicht in Erfüllung gehen, und das war wahrscheinlich besser so. Innerlich seufzte sie enttäuscht.
Arthurs Augen wurden feucht. Er umschlang seine Tasse, als würde er die Hitze des frisch aufgekochten Wassers darin nicht spüren. »Also tat ich, was meine Vorfahren getan hatten: Ich zog mich in die Kate zurück, um zu sterben. Aber auch bei mir scheint das Schicksal es anders zu wollen, denn die Jahre ziehen dahin, und ich bin immer noch nicht mit Joan vereint.« Sein Lachen ging in ein Schniefen über.
Er goss sich noch mehr der aus Mais gebrauten hochprozentigen Flüssigkeit in seinen Tee und bot Shade an, bei ihr ebenfalls nachzuwürzen, aber sie lehnte ab. »Es tut einfach gut, hier zu wohnen, es ist wie ein Jungbrunnen. Bis auf den Grünen Star bin ich kerngesund.«
Daher kam also der milchige Schleier auf seinen Augen.
»Mein Arzt gibt mir noch zwei Jahre, dann werde ich kaum noch etwas sehen können. Aber ich ziehe nicht in die Stadt zurück. Mich kriegen keine zehn Pferde in ein Altenheim! Ich habe keine Kinder. Was soll ich zwischen all den Fremden, die sich nur über ihre Wehwehchen unterhalten? Ich wäre dort kreuzunglücklich. All meine Vorväter sind hier gestorben, auch ich werde hier meinen letzten Atemzug tun.« Sachte schlug er auf die Tischplatte. »Bei Joan.«
»Wie bitte?« Mit einer Gänsehaut im Nacken schaute Shade sich um, da sie befürchtete, die Überreste seiner Frau könnten in einem Sarg unter dem Bett liegen.
Art zog seine Nase hoch und nippte an seinem Tee. »Sie wurde auf dem Friedhof in Willow Springs beigesetzt. Aber sie gehört doch zu mir. In der Nacht nach der Beerdigung habe ich sie ausgebuddelt, mitgenommen und neben dem Ahorn, den sie so liebte, hinter der Hütte begraben. Sie war oft mit mir hier oben, zuerst um meinen Vater zu besuchen und dann, nachdem er verstorben war, um ein paar Tage Urlaub zu machen, denn mehr konnten wir uns nie leisten. Sie mochte dieses Fleckchen Erde. Ich hatte gehofft, eines Tages gemeinsam mit ihr in die Hütte zu ziehen, aber man hat mir meine bessere Hälfte vorher entrissen. Aber was jammere ich? Wir sind ja zusammen.« Besorgt sah er auf. »Das bleibt unser Geheimnis, ja?«
»Versprochen.« Sie spürte, dass er sich seinen Kummer von der Seele reden musste, um daran nicht zugrunde zu gehen. Er litt weitaus mehr, als er zugab.
»Genauso wie die Existenz von Roque.«
»Hast du noch nie jemandem von ihm erzählt?« Unruhig rutschte Shade auf ihrem Stuhl hin und her. »Ich meine, er ist doch ein Engel, zumindest behauptet er
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