Eisige Versuchung
auch eine Attrappe gewesen? Art war jedenfalls von einer echten Bedrohung ausgegangen.
»Könnten Sie Ihren Mann holen, dann reden wir hier draußen und müssen erst gar nicht reinkommen.« Denn dass Mrs. Gold keine Besucher in ihrem Heim haben wollte, war offensichtlich.
Mit verschränkten Armen stand sie im Eingang wie ein Türsteher. »Das geht nicht.«
»Bitte!« Shades Geduld schmolz langsam dahin.
»Selbst wenn ich wollte, wäre es unmöglich, Schätzchen. Er liegt in der Bridgeport Medical Clinic, und es tut mir nicht einmal leid. Hoffentlich behalten sie ihn lange dort, dann habe ich wenigstens meine Ruhe!« Daraufhin knallte sie die Tür zu und ließ Shade und Roque einfach stehen.
Kaum dass sie allein waren, neigte Roque sich vor, stützte sich auf seinen Oberschenkeln ab und ächzte.
Sanft streichelte Shade über sein Haar. »Deine Schwingen …«
»Sie drängen so gewaltig heraus, dass ich dem Druck nachgeben muss. Ich halte das nicht länger aus.« Er richtete sich wieder auf. Der Schmerz trübte seinen Blick. Sein Teint war aschfahl, nur seine Wangen glühten. »Fahr du zur Klinik voraus. Ich werde mich kurz zurückziehen, um sie zu entfalten, und komme nach. Ist das in Ordnung?«
»Selbstverständlich.« Ein Kranker konnte ihr wohl kaum gefährlich werden.
Die Sehnen an seinem Hals traten hervor. »Es dauert auch nicht lange.«
»Ist Rodriguez dein echter Name?«, fragte Shade zögerlich.
»Er war es. Jetzt heiße ich nur noch Roque. Nachnamen spielen keine Rolle mehr für mich.« Er klang melancholisch.
»Erinnerst du dich überhaupt an dein Leben als Mensch?«
Gepresst brachte er hervor: »Je mehr Zeit ich auf der Erde verbringe, desto mehr Fragmente kehren zurück. Wie Puzzleteile.«
»Ich verstehe.« Er hatte ihr ja erzählt, dass es in der Hölle so eiskalt war, dass alles einfror, sogar die Gedanken. Nun, da er sich an der Erde wärmte, tauten sie auf. Aber war das gut? Würde es ihm nicht dadurch noch schwerer fallen, in den Permafrost zurückzukehren?
»Ich wollte nicht, dass jemand deine wahre Identität kennt, Shade.«
Dankbar strich sie seinen Oberarm hinab. Seine harten Muskeln spürte sie selbst durch das Hemd. »Ich hätte einen falschen Namen benutzt.«
Obwohl sie protestierte, brachte er sie zum Bear’s den zurück und wartete, bis sie in ihren Leihwagen gestiegen war.
Erst dann lief er los und verschwand zwischen den Bäumen hinter der Bar, wobei er bereits die obersten Knöpfe öffnete – wie Clark Kent, der seinen Anzug abstreifte, um sich innerhalb von Sekunden in seinem Superman-Kostüm in die Lüfte zu erheben. Nur dass Roque kein Held war, zumindest keiner, der durch und durch gut war. Aber er half ihr. Er hatte sich als ihr Ehemann ausgegeben und Qualen ertragen, um sie bei ihrer Suche nach Arthurs Mörder zu unterstützen. Böse konnte er somit auch nicht sein. Also, was war er? Diese Frage beschäftigte Shade, als sie ihren SUV startete und losfuhr.
In der Klinik stellte sie erleichtert fest, dass die Besuchszeit noch nicht vorbei war. Die Zeit rann ihr nur so durch die Finger. Inzwischen brach der späte Nachmittag an. Durch die Schneewolken wurde es bereits dunkel. In der Aufnahme erfuhr sie, auf welchem Zimmer Bill Gold lag, und beschloss, nicht auf Roque zu warten, sondern sofort mit dem Aufzug ins Obergeschoss zu fahren. Sie wusste ja nicht, wie lange der Engel brauchte, um seine Flügel zu lüften.
Ein paar Sekunden lang blieb sie auf dem Gang stehen. Sie atmete tief durch, ermahnte sich, nicht gleich auf Bill zuzustürmen und ihn zu würgen, weil er ihr auf dem Mount Jackson so übel mitgespielt hatte und eine Mitschuld an Arthurs Tod trug.
»Ruhig bleiben!«, sprach sie zu sich selbst. »Hau ihm erst eine runter, nachdem er dir Joes echten Namen genannt hat!«
Unter ihre Wut mischte sich ein wenig Angst. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, trat sie energisch ein. Sie schloss die Tür hinter sich – und zwar fest genug, um Bill zu warnen, dass sie in Fahrt war und sich nicht noch einmal würde einschüchtern lassen, aber nicht so laut, dass eine Krankenschwester oder ein Pfleger angestürmt kam.
Glücklicherweise waren die beiden Betten neben dem schlafenden Bill leer. Das eine war unbenutzt, das andere zerwühlt. Entweder vertrat der Kranke, der sich das Zimmer mit ihm teilte, sich gerade die Beine, war zu einer Untersuchung oder befand sich mit seinem Besuch in der Cafeteria. Jedenfalls war er nicht da, was Shade freute.
Offenbar war sie
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