Eisige Versuchung
doch zu leise hereingekommen, denn Bill, der an eine Infusion angeschlossen war, schlief weiter. Um ihn aufzuwecken, klatschte sie mehrmals.
Träge öffnete er seine Augen. Als er sie erkannte, setzte er sich hastig auf und riss abwehrend seine Hände hoch. Seine Fingerkuppen sahen unnatürlich blauschwarz aus, als hätte er sie in Tinte getaucht. Die Blase auf seiner Nasenspitze wirkte, als wäre sie mit Teer gefüllt. Trotz der Salbe auf seinen Wangen leuchteten die roten Flecke darunter durch, und Shade fragte sich, ob sich die Haut in seinem Gesicht ablöste.
Bill Gold hatte schwere Erfrierungen erlitten, und es bestand kein Zweifel daran, dass er sie sich in jener Nacht zugezogen hatte, als Roque ihn bewusstlos schlug, um Shade vor ihm zu retten.
Dreizehntes Kapitel
Frostfinger
Bill Gold gab ein jämmerliches Bild ab. Von dem skrupellosen Kriminellen war nichts mehr übrig. Gar nichts. Wenn Shade Bill »Averell« Gold jetzt betrachtete, bezweifelte sie, dass er sie vergewaltigt hätte. Er erweckte eher den Anschein, ein armes Würstchen zu sein, das versucht hatte, einen Verbrecher zu mimen, aber in Wahrheit gar nicht den Schneid besaß, einen Coup durchzuziehen.
Im ersten Moment wunderte sie sich, dass er nicht aufstand und sich entweder drohend vor ihr aufbaute oder auf den Gang eilte, um Hilfe zu holen. Dann begriff sie. Auch seine Füße mussten in Mitleidenschaft gezogen worden sein.
In einer normalen Winternacht hätten seine Schuhe ihn wahrscheinlich geschützt. Doch der Schnee war alles andere als normal, und in besagter Nacht hatte der Eisige Lord seinen frostigen Atem auf die Erde geschickt, um Roque zu ermahnen, seine Jagd fortzuführen. Bill war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen.
»Selbst schuld«, dachte Shade. Immerhin lebte er noch, während Arthur von Joe brutal ermordet worden war.
Plötzlich flog ein großer Schatten herbei und landete auf dem Balkon. Roque ließ rasch seine Flügel verschwinden, stellte sich so hin, dass Bill ihn nicht sehen konnte, und zog sein schwarzes Hemd an.
Shade bedauerte das. Was hatte dieser Mann doch für einen Oberkörper! Als sie ihm die Balkontür öffnete, konnte sie sich nur schwer zurückhalten, ihre Hände über seinen muskulösen Brustkorb gleiten zu lassen. Fast hatte sie die Angst, die er in der Kneipe in ihr ausgelöst hatte, vergessen. Nun fiel sie ihr doch wieder ein. Sie hoffte, dass er diese Waffe nicht noch einmal einsetzte, denn sie wusste nicht, ob sie sich ein weiters Mal selbst davon überzeugen konnte, dass er ihr nichts tun würde.
Nachdem sie miteinander geschlafen hatten, hatte sie ihn mit anderen Augen gesehen. Er kam zwar aus der Hölle, aber er war selbst nicht böse. Niemand, der schlecht war, sehnte sich derart nach Wärme, Nähe und Zuneigung, hatte sie gedacht. Das war ein Trugschluss gewesen, wie sich im Bear’s den herausgestellt hatte. Das Virus der Finsternis hatte ihn befallen. Er war verloren – für die Welt und für Shade. Warum wuchs das Verlangen, ihn zu umarmen, durch diese Erkenntnis nur umso mehr?
Roque trat ein und baute sich vor dem Krankenbett auf. Selbst ohne Schwingen wirkte er imposant, beeindruckend und durch seine finstere Miene einschüchternd. Er stemmte seine Fäuste in die Hüften.
Bill sank tiefer ins Kissen. Abwehrend hielt er seine Arme hoch, seine blau-schwarzen Finger zu Krallen geformt. Sein Blick suchte den Alarmknopf für die Krankenschwester, doch Shade bezweifelte, dass er ihn durch die Erfrierungen überhaupt drücken konnte.
»Er hat bereits für seine Tat bezahlt.« Beruhigend legte sie eine Hand auf Roques Oberarm. Im grellen Licht der Neonlampe wirkten seine Haare nicht mehr weißblond, sondern leuchteten wie Weizen. Sah nicht normalerweise bei der kühlen Beleuchtung alles heller aus? Selbst seine Augen schimmerten seegrün und nicht mehr hellblau. Es musste sich um eine Sinnestäuschung handeln. Was sonst?
Er schnaubte. »Und es verdient!«
»Hätte er nicht mit einer Pistole auf mich gezielt, hätte er Handschuhe getragen«, sagte Shade naserümpfend. »Und durch die Handschuhe wären die Erfrierungen nicht ganz so schlimm ausgefallen.«
»Wäre er nicht auf den Mount Jackson gestiegen, um Arthur zu drangsalieren, hätte er erst gar keine erlitten.«
»Ich bin nur mitgekommen, weil E…« Gold stockte. Sein Gesicht rötete sich. »Weil mein Kumpel mich darum gebeten hatte. Hab’ ihn begleitet, mehr nich’.«
»Das ändert nichts an der Tatsache, dass du mich
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