Eisige Versuchung
flüsterte er und strich mit seiner Fingerspitze über ihre Ohrmuschel.
Das sah Shade ein. Doch gleichzeitig erkannte sie etwas anderes, das ihr Unbehagen bereitete.
Wenn er wirklich telepathische Fähigkeiten besäße, hätte er sie in diesem Moment mit positiven Suggestionen überschüttet. Er hätte die Sonne in ihr scheinen lassen, damit sie vergaß, was soeben vorgefallen war. Stattdessen verhielt er sich wie ein Mensch. Sie vermutete, dass er niemanden direkt beeinflussen konnte. Er war nicht in der Lage, jede beliebige Emotion in seinem Gegenüber zu erzeugen – sondern nur Angst und Schrecken. Roque musste in der Bar lediglich das Dunkle in ihm – das Stück Hölle, das er stets in sich trug und das ihn kontrollierte – an die Oberfläche geholt haben.
Diese Erkenntnis ließ sie leicht schwanken, als er sie freigab. »Geht schon«, beeilte sie sich zu sagen, damit er sie nicht erneut anfasste. Sie war verwirrt und brauchte Zeit, um über alles nachzudenken. »Ich bin nur leicht ausgerutscht. Der Boden gefriert.«
»Das eben hatte nichts mit dir oder mit mir zu tun. Ich wollte nur verhindern, kämpfen zu müssen, und gleichzeitig unsere Suche beschleunigen.« Plötzlich neigte er sich mit schmerzverzerrter Miene nach hinten, als hätte jemand seinen Rücken gepeitscht. »Uns läuft die Zeit davon.«
»Weil dein Herr dich dazu drängt, seinen Auftrag zu erfüllen?«
Er zögerte. »Dieser Joe könnte längst über alle Berge sein.«
»Dein Tattoo tut weh.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Wieso regte sich schon wieder Mitgefühl in ihr?
»Ich muss meine Flügel bald entfalten, das Brennen wird immer stärker. Lass uns zu Bill Golds Haus gehen! Vielleicht finden wir ihn dort.«
»Falls er noch lebt«, fügte Shade in Gedanken hinzu.
Roque schlang seine Finger in ihre, küsste ihren Handrücken und sah sie entschuldigend, beinahe flehend an. Aber er sagte nichts weiter, sondern zog sie mit sich in die Gasse hinein.
Seite an Seite gingen sie durch den Schnee, der inzwischen auf dem kalten Untergrund liegen blieb. Ihr war mulmig zumute. Würden sie Bill, den sie zuvor Averell genannt hatten, daheim antreffen? Konnte sie ihn vor seiner Frau und seinem Sohn überhaupt zur Rede stellen? Sie mussten es wohl oder übel. Die Familie tat Shade leid. Es war sicherlich nicht einfach, einen Säufer als Mann und Vater zu haben. Aber wussten sie auch über seine kriminellen Machenschaften Bescheid?
Grizzly hatte die Wahrheit gesagt. Vor dem Einfamilienhaus in der Fir Lane 8 waren einige Latten aus dem Zaun, der den Vorgarten eingrenzte, herausgebrochen. Die Pfosten links neben der Pforte waren so morsch, dass sie knapp über der Verankerung abgebrochen waren.
»Nicht erst seit gestern«, dachte Shade. Offenbar kümmerte sich niemand um die Renovierung. Vielleicht hatte auch jemand dagegengetreten.
Den Garten konnte man einsehen. Ein ausgeschlachteter VW Caddy ohne Nummernschild rostete dort vor sich hin. Die feuerrote Lackierung war größtenteils abgeblättert. Die Fenster im Untergeschoss waren mit gelber Folie beklebt, als hätte die Familie etwas zu verbergen. Nirgends stand ein Name.
»Nicht gerade einladend.« Shade ging voran zur Tür. »Besuch scheint nicht sehr willkommen zu sein.«
Roque legte seine rechte Hand an ihren Rücken und klingelte mit seiner linken. Egal, was er tat, er behielt Körperkontakt zu ihr, keineswegs aufdringlich, sondern dezent. Er schien wirklich ein schlechtes Gewissen zu haben. Das versöhnte sie ein wenig.
Erst nach zwei weiteren Versuchen öffnete eine Frau. Sie machte nicht den Eindruck, gehetzt zu sein, als wäre sie aus dem hintersten Winkel des Gebäudes angerannt gekommen, sondern eher genervt. »Was ist?«
Shade schätzte sie jünger ein, als sie vermutlich war. Ihr Gesicht sah verlebt aus, mit Tränensäcken, tiefen Falten und herabhängenden Mundwinkeln, als hätte sie viel Kummer erfahren. Sie trug eine dicke graue Strickjacke über einem Wollpullover und darunter eine blau-schwarz karierte Bluse, deren Kragen oben herauslugte. Ob die Heizung defekt war? »Einen wunderschönen guten Tag.«
»Sie sind nicht von hier, habe ich recht?« Ihre Stimme klang rau wie ein Reibeisen.
Shade spürte die Ablehnung, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. »Wie kommen Sie darauf?«
»In diesem Scheißkaff ist kein Tag schön.« Ihr keuchender Husten entblößte ihre Zahnlücke. Ihr fehlte ein Schneidezahn. Zeige- und Mittelfinger waren so gelb wie
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