Eisige Versuchung
flog rasant mit ihr zwischen den Bäumen hindurch. Der Wind fühlte sich mit einem Mal viel kühler an. Sie wagte kaum zu atmen, Adrenalin wurde durch ihre Adern gepumpt, und ihr Herz pochte schmerzhaft, weil sie befürchtete, mit einem Baum zu kollidieren. Immer wieder schloss sie kurz ihre Augen. Sie zog ihren Kopf ein, er ruckte zur Seite, wenn Roque eine Kurve flog, als könnte sie damit einem Stamm ausweichen. Aber sie war hilflos. Alles, was sie tun konnte, war, ihm zu vertrauen.
Ihr Leben lag in der Hand eines Todesengels. Wenn sie genauer darüber nachdachte, war das irrsinnig. Doch je länger er mit ihr durch die Luft jagte, desto mehr gefiel ihr der Trip. Sie kicherte, entspannte sich und schaute nun mutig nach vorn. Sie fühlte sich wie ein Blitz. Pfeilschnell sauste Roque den Hang hinauf. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, flog er seitlich zwischen Tannen, die dicht beieinanderstanden, hindurch. Er umkreiste eine Gruppe von Büschen, korrigierte seine Richtung und steuerte den Pfad an, auf dem Marcel angehalten hatte, stets begleitet vom Rauschen seiner großen Flügel.
Erst als sie in die Nähe des Staudamms kamen, verlangsamte er sein Tempo. Gemächlich schwebte er näher heran und landete sanft. Einige Sekunden lang hielt er Shade fest, bis sie ihre Balance gefunden hatte und nicht mehr keuchte. Er ließ sie los, stellte sich vor sie hin und verschränkte seine Arme.
»Atemberaubend!«, stieß sie aus und meinte eigentlich seine Flugkünste.
Doch er münzte die Würdigung auf sich. »Das klingt doch schon besser als nett«, meinte er, wischte in einer selbstverliebten Geste eine imaginäre Schneeflocke von seiner Brust, um ihre Aufmerksamkeit auf seinen entblößten Oberkörper zu lenken, und zwinkerte.
Das Knistern von Papier drang zu ihnen. Rasch duckten sie sich. Nicht weit entfernt auf einer Lichtung stand Marcel. In diesem Teil des Waldes war die Schneedecke noch intakt, weil der Hang auf der Schattenseite des Berges lag. Shade und Roque pirschten sich im Schutz einiger Tannen heran.
»Was tut er da?«, fragte Shade leise und stellte verwundert fest, dass Roque eine Gänsehaut hatte. Wie war das möglich, wo er doch die Ursache für die Kälte und deshalb bisher immun dagegen gewesen war? »Kannst du sehen, was er da hochhält?«
Marcel hatte seine Sneakers gegen Boots eingetauscht und trug nun einen schweren braunen Ledermantel mit Pelzkragen. Abwechselnd schaute er auf den DIN-A6-großen Bogen Papier, den er mit beiden Händen vor sich hielt, und auf die Umgebung.
Geduckt schlichen Shade und Roque bis dicht heran.
Er drückte sanft auf ihre Schulter, damit sie sich neben ihn hinkauerte. »Nein, aber es ist jedenfalls nicht die Zeitung, die er von Hartcourt bekommen hat.«
Wie ein Zauberer machte Marcel eine Geste in Richtung der Bäume, die zwischen der Lichtung und der Sweetwater Road standen, als handelte es sich nur um Kreidezeichnungen auf einer Tafel, die er einfach wegwischen könnte. Doch nichts geschah. Shade hatte schon befürchtet, es mit einem weiteren magischen Wesen zu tun zu haben, aber Roque blieb das einzige Wunder auf dem Mount Jackson.
Marcel schlenderte auf sie zu. Shades Puls beschleunigte sich, da sie befürchtete, er könnte in den Wald kommen und sie entdecken, doch er blieb am Rand des weißen Feldes stehen. Nervös warf sie Roque einen fragenden Blick zu, aber dieser deutete ihr an zu bleiben, wo sie waren. Sie befanden sich nicht gerade in einem guten Versteck, aber sie würden wohl eher auffliegen, wenn sie sich bewegten.
Der Unbekannte holte ein Mobiltelefon aus seiner Jackentasche, drückte einige Tasten und hielt es an sein Ohr. »Lionel Broadbaker hier. Harcourt hat das Problem gelöst.« Seine Stimme vibrierte förmlich vor Freude. »Der Deal ist unter Dach und Fach. Nächste Woche legen wir los.«
Shade bekam einen Wadenkrampf. Sie ließ sich nach vorn in den Schnee fallen, streckte ihr Bein nach hinten aus und kämpfte gegen den Drang an, ihren Schmerz hinauszuschreien.
Meinte der Mann etwa Arthur mit dem »Problem«? Hatte er Earl Hartcourt damit beauftragt, ihn aus dem Weg zu räumen? Und warum zur Hölle hatte sein Handy auf dem Mount Jackson Netzempfang? Immer wenn sie hatte telefonieren wollen, war ihr Telefon tot gewesen. Wahrscheinlich hatten die Wolken gestört. Oder der teuflische Winter hatte die Kommunikation absichtlich unterbunden.
Roque kam nah an ihr Ohr heran und flüsterte: »Bist du in Ordnung?«
Mit feuchten Augen nickte
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