Eisige Versuchung
sie. Sie schüttelte lautlos den Schnee von ihren Händen, die eiskalt waren. Überrascht hielt sie still, als der Engel sie auf den Mund küsste. Seine Lippen berührten die ihren zärtlich, blieben einige Atemzüge lang auf ihnen und drückten kurz fester zu, bevor sie sich lösten. Shades Wade ging es sogleich besser, nur ihr Herz blutete immer noch. Broadbakers Worte hatten sie wie Messerklingen getroffen und verletzt.
»Es muss nicht das bedeuten, was du glaubst«, sagte Roque leise und wischte über ihre Wange, als wollte er eine Träne mit seinem Finger auffangen. Doch Shade weinte nur innerlich.
»Natürlich nicht.« Lionel Broadbaker konnte etwas völlig anderes meinen. Woher hätte er Arthur Ehrmann kennen sollen? Art hatte den Mount Jackson nur verlassen, wenn es unbedingt notwendig gewesen war, zum Beispiel, wenn er Lebensmittel brauchte, und auch nicht gerade den Kontakt zu Menschen gesucht. Aber er lebte in der Nähe dieser Lichtung, auf der anderen Seite der Schleuse, das musste jedoch nichts heißen.
Shades Gedanken liefen auf Hochtouren. Sie spielte alle möglichen Szenarien durch. Das brachte sie allerdings kein Stück weiter. Entweder stellte Lionel so etwas wie einen Mittelsmann dar und war womöglich ein Rechtsanwalt, oder er selbst stand an der Spitze der Hierarchie. Immerhin war er der Mann mit der Pistole, dem Signalgeber, in der Hand. Er hatte soeben den Startschuss für etwas gegeben, in das der Sheriff verwickelt war. Hartcourt sollte für Recht und Ordnung sorgen, für die Einhaltung von Gesetzen, das Wohl der Bürger des Bridgeport Valleys immer im Blick. Doch Shade wurde das Gefühl nicht los, dass es hier nur um sein eigenes Wohl ging. Ein Sheriff sollte nicht in Geschäfte verwickelt sein, besonders in keine, zu denen konspirative Treffen in Cafés gehörten.
Lionel steckte sein Mobiltelefon in seine Manteltasche zurück und seufzte zufrieden.
»Hast du seinen Namen schon einmal gehört?« Roque strich über Shades Wirbelsäule. »Klingelt bei dir etwas?«
Ihre Hose war längst an den Knien durchnässt. Obwohl es zu spät war, hockte sie sich wieder hin. »So, wie er gekleidet ist, stammt er bestimmt nicht aus dem Mono County. Einen solchen Mantel kann sich hier keiner leisten.«
»Wir müssen wissen, was in die Zeitung, die er von Hartcourt bekam, eingerollt war.« Roque kniff die Augen zusammen und spähte zu Broadbakers Wagen hinüber.
»Du glaubst, dass sie etwas ausgetauscht haben?« Dieser Gedanke war ihr bisher nicht gekommen. »Für mich sah es danach aus, als wäre der Sheriff geschmiert worden. Die identische Gazette, die der andere bei sich hatte, sollte bestimmt nur den Austausch verschleiern.«
»Ich denke auch, dass er Dollars geliefert bekam. Bleibt noch die Frage, ob und was sich in dem Paket, das der Fremde bekam, befand.« Nachdenklich tippte Roque mit einem Finger gegen sein Kinn. »Beide machen nicht den Anschein, als würden sie sich auf das Ehrenwort des anderen verlassen. Sie verlangen Sicherheiten. Daher vermute ich, dass Broadbaker etwas im Gegenzug für sein Schmiergeld gefordert hat. Einen Beweis oder eine Absicherung, irgendetwas, das ihm zeigt, dass sein Vorhaben in trockenen Tüchern ist und es endlich losgehen kann, womit auch immer.«
Es fehlten ihnen noch zu viele Puzzleteile, um zu durchschauen, was zwischen den beiden Männern vor sich ging und ob Arthurs Tod etwas mit ihrem Abkommen zu tun hatte. Bestenfalls fanden sie etwas über den Sheriff heraus, das ihm das Genick brach, ohne dass Shade oder Roque damit an die Öffentlichkeit gehen mussten.
»Ich werde mich an sein Auto heranschleichen und nach der Zeitung suchen.« Als Roque sich erhob, knacksten seine Knochen, was Shade unter anderen Umständen nicht einmal wahrgenommen hätte, aber im Wald war es so still, als würde selbst die Natur den Atem anhalten.
Sie stand auf und hielt ihn am Arm fest. »Das ist zu gefährlich! Er wird dich sehen.«
»Ich muss es wagen. Es ist unsere einzige Chance herauszufinden, was vor sich geht.« Behutsam streifte er ihre Hand ab. »Wenn Broadbaker erst wieder eingestiegen ist, wird er zurück in sein Hotel oder, noch schlimmer, heim in die Großstadt fahren und sein Geheimnis mitnehmen. In sein Zimmer einzubrechen oder in die Firma, für die er arbeitet, wird viel schwieriger werden, eventuell sogar unmöglich sein, als jetzt seinen Wagen zu durchsuchen.«
Zögerlich nickte sie. Er hatte recht. Aber was würde geschehen, wenn Lionel ihn
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