Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
Fall. Sie hatte es ihm geschworen: großes Indianerehrenwort. Aber nun war alles anders. Es gab keine Regeln mehr, das Warten war vorbei.
Als sie den Schrank erreicht hatte, zog sie das erste Paket heraus, das in mehrere Plastiksäcke gehüllt war, um es vor Feuchtigkeit zu schützen, und legte es auf den Tisch. Drei weitere folgten. Dann fing sie an.
Frieda schaffte es gerade noch rechtzeitig in die Klinik. Sie hatte mit Jack einen Treffpunkt im Eingangsbereich vereinbart, neben dem Ständer mit den Genesungskarten, aber er war noch nicht da. Ein paar Minuten später sah sie ihn mit hochrotem Gesicht durch die Drehtür eilen. Die Sachen, die er trug, wirkten völlig willkürlich kombiniert – Wochenendklamotten, dachte Frieda, oder Schnell-raus-aus-dem-Bett-Klamotten: eine abgewetzte Samtjeans, die einmal dunkelrot gewesen war, ein Hemd mit einem braun-grünen geometrischen Muster und darüber eine Strickjacke mit Rentieren darauf, bestimmt ein Weihnachtsgeschenk seiner Eltern, mutmaßte Frieda. Bei einem seiner Turnschuhe fehlten die Schnürsenkel, so dass sein Gang etwas asymmetrisch Hüpfendes hatte, weil er mit einem Fuß immer über den Boden schleifen musste, um den Schuh nicht zu verlieren.
»Tut mir leid«, keuchte er, »Wecker kaputt, U-Bahn verspätet. Wartest du schon lang?«
»Nur ein paar Minuten, kein Problem. Wir haben keinen Termin oder etwas Derartiges, wir machen nur einen Besuch. Ich habe mir gedacht, dass es für dich vielleicht interessant sein könnte, sie kennenzulernen, und von ihr weiß ich, dass sie gern Besuch bekommt. Danach trinken wir einen Kaffee zusammen, und du kannst mir von Carrie erzählen.«
Sie gingen die Treppe hinauf und den langen Gang mit den bunten Bildern entlang, wo die vielen Rollstühle und Gehhilfen an der Wand standen, und betraten dann durch die Flügeltür die Station. Dort hatte sich kaum etwas verändert: Nur die Frau in dem viktorianischen Nachthemd, die immer puzzelte, war nicht mehr da, und aus dem Bett, das von Michelle Doyce belegt gewesen war, starrte ihnen eine sehr beleibte Frau mit leerem Blick entgegen.
»Sie ist da hinten«, erklärte die Schwester und deutete dabei auf eine Tür, »in einem Einzelzimmer. Befehl von oben.« Sie zog theatralisch die Augenbrauen hoch, als wollte sie auf diese Weise eine launige Antwort provozieren.
Frieda nickte. »Gut.«
Das neue Zimmer von Michelle Doyce entpuppte sich als kleiner, schäbiger Raum mit abblätternden hellgrünen Wänden. Ohne das große Fenster, das auf eine Feuertreppe hinausging und Tageslicht in den Raum fluten ließ, wäre er unerträglich trist gewesen. Die metallene Wendeltreppe führte hinunter in einen Hof, auf dem, wie Frieda gerade entdeckte, ein fast leerer Container und mehrere überquellende Mülltonnen standen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es irgendjemand von den Patienten, die sie gesehen hatte, schaffen sollte, sich auf diesem Weg in Sicherheit zu bringen. Unter dem winzigen Waschbecken in der Ecke entdeckte sie eine Küchenschabe. Sie öffnete das Fenster, hob das Insekt mit einem Papiertaschentuch auf und ließ es behutsam hinunter in den Container fallen. Jack verzog das Gesicht.
Michelle saß auf dem Metallstuhl neben ihrem Bett. Auf dem Nachttisch lagen mehrere kleine Papierfetzen, drei ordentlich aufgereihte Flaschenverschlüsse aus Kunststoff, ein alter Pillenbehälter, dessen Fächer mittlerweile kleine Knöllchen aus Fusseln und Haaren enthielten, fünf Puzzleteile und ein paar kleine Seifenbrocken, die vermutlich aus den Abfalleimern verschiedener Bäder stammten. Auf diese ganze eigene Art, ging Frieda durch den Kopf, schaffte sich Michelle Doyce eine Umgebung, in der sie sich wohlfühlte.
Michelle legte einen Finger an die Lippen, als ihre beiden Besucher auf sie zusteuerten. »Sie schlafen«, flüsterte sie.
»Wir sind ganz leise«, antwortete Frieda. »Dürfen wir uns ans Fußende setzen, oder möchten Sie, dass wir stehen bleiben?«
»Du darfst sitzen, wenn du vorsichtig bist. Er kann stehen.«
Jack streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Jack«, stellte er sich vor, »ein Freund von Frieda. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Michelle Doyce betrachtete seine ausgestreckte Hand, als wüsste sie nicht, worum es sich dabei handelte. Verlegen ließ er sie wieder sinken. Nun aber beugte Michelle sich vor, griff nach seiner Hand und untersuchte sie neugierig, indem sie mit einem Finger über seine Hornhaut fuhr und dann unter leisem Gemurmel ein geplatztes
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