Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
wühlte in ihr Gefühle auf, die sie nur verwirrten und traurig machten. Er aber hatte sie sich sehr lange angesehen, als er glaubte, dass sie schlief, und dann hatte er sie in Plastiktüten gewickelt und zusammen mit seinen anderen Taschen verstaut.
Nun legte sie die Fotos vor sich hin, eines nach dem anderen. Sie hatte eine große Schachtel Zündhölzer, die sie nachts mal von einem anderen Boot gestohlen hatte, und zündete für jedes Foto ein eigenes Zündholz an, um es dann über einem Gesicht, einer Personengruppe oder einem Frühlingsgarten aufflammen und wieder erlöschen zu lassen. Lauter Lügen, dachte sie verbittert. Für ein Foto lächelt jeder – jeder posiert und setzt eine Maske auf.
Da war ihre Mutter mit ihrem Kameragesicht, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, liebevoll und fürsorglich lächelnd, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Und ihr Dad, der so rund und süß aussah, obwohl doch jeder wusste, dass er ein brutaler Kerl war, der Geld gemacht hatte, indem er es anderen wegnahm. Ed hatte ihr erklärt, warum das falsch war und warum das Geld ihrem Vater eigentlich gar nicht gehörte. Die Einzelheiten hatte sie vergessen, aber die waren sowieso unwichtig. Als Nächstes kamen ihre zwei Schwestern an die Reihe. Es gab Tage, an denen sie sich kaum noch an ihre Namen erinnerte, aber sie wusste noch genau, was für Musterexemplare sie gewesen waren, gut in der Schule und zu Hause brav. Sie hatten sich bei ihren Eltern eingeschleimt, ihnen mit ihrem gewinnenden Lächeln Geld und Geschenke abgeluchst. Mittlerweile hatte sie das durchschaut. Früher war sie der Meinung gewesen, dass die beiden es einfach besser verstanden, ihren Platz in der Welt zu finden und sich in ihrer Haut wohlzufühlen – dass ihre Schwestern einfach Glück gehabt hatten und sie selbst Pech. Nun betrachtete sie im Licht der Flamme Lilys schmales, von zwei fest geflochtenen Zöpfen umrahmtes Gesicht, das sie aus dem Foto angrinste, und dann das eher ernst dreinblickende Gesicht von Bea. Schließlich betrachtete sie sich selbst. Elizabeth. Betty. Beth. Das war sie nicht mehr: dieses pummelige, zornige Mädchen, das es so gern allen recht gemacht hätte, aber schon vorher wusste, dass sie das nicht konnte. Jetzt war sie dünn, sie bestand nur noch aus Muskeln und Knochen. Jetzt hatte sie eine Narbe an der Lippe, die ihrem Mund einen höhnischen Zug verlieh, und ihr Haar trug sie raspelkurz. Sie war durchs Feuer gegangen und gereinigt wieder herausgekommen.
38
J osef strich gerade Mary Ortons Sockelleisten weiß. Während er den Pinsel über das Holz zog, versuchte er, nicht an seine Kinder zu denken. Er verspürte jedes Mal einen brennenden Schmerz in der Brust, wenn er sie sich zu Hause vorstellte, ohne ihn, oder wenn er sich seine letzte Begegnung mit ihnen ins Gedächtnis rief. Er hatte die beiden zu fest in den Arm genommen, und sie waren vor ihm zurückgewichen – abgeschreckt durch den Geruch seines Atems oder den wilden Ausdruck in seinen Augen. Deswegen konzentrierte er sich nun ganz darauf, die Farbe möglichst glatt hinzubekommen. Als er kurz von seiner Arbeit hochblickte, bemerkte er, dass Mary Orton mit ängstlicher Miene hinter ihm stand, die Hände in ein Geschirrtuch gekrallt.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Josef legte den Pinsel auf den Deckel der Farbdose und richtete sich auf. »Natürlich, zeigen Sie es mir«, antwortete er in aufmunterndem Ton.
»Bitte kommen Sie mit.«
Sie führte ihn hinauf in ihr Schlafzimmer, den einzigen Raum des Hauses, in dem er noch nicht gewesen war. Es war ein Zimmer mit einer hohen Decke, einer gemusterten Tapete und einem großen Fenster mit Blick auf den Garten, wo endlich die ersten Frühlingsblumen aus dem kalten Boden hervorspitzten. Sie trat an einen altmodischen Sekretär, öffnete ihn und tastete in der kleinen Schublade herum. Josef merkte, dass sie vor Aufregung ganz ungeschickte Finger hatte und heftig atmete.
»Hier.«
Sie drehte sich um und drückte ihm ein gefaltetes Blatt Papier in die Hand. Josef klappte es auseinander und starrte auf die blauen Zeilen hinunter, die zarte, altmodische Schreibschrift, bei der alle Buchstaben ineinander verschlungen und verschränkt waren.
»Was ist das?«, fragte er. »Mein Englisch ist wirklich nicht gut, Misses Orton.«
»Ich habe mein Testament tatsächlich geändert«, flüsterte sie und starrte ihn dabei mit Tränen in den Augen an. »Ich wollte ihm ein Drittel meines Vermögens
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