Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
sie jedoch als tröstlich empfand. Es verlieh ihr eine Schwere, die verhinderte, dass sie davonschwebte.
Sie trat an Deck und von dort hinaus auf den Treidelpfad. Es war ein sonniger, kalter Tag. Das Sonnenlicht tat ihr in den Augen weh. Sie konnte es sogar hören. Hinzu kamen die Stimmen, die nicht einmal tagsüber verstummten. Ununterbrochen nörgelten sie an ihr herum.
»Lass mich in Ruhe«, sagte sie zu einer besonders aufdringlichen, »lass mich in Ruhe. Ich kann dich hören. Ich mache es ja. Lass mich endlich in Ruhe, sie haben es mir schon gesagt.«
Sie hörte schon wieder eine Stimme. Sie klang noch schlimmer als die anderen, einfach nur blöd. Diese Stimme kam aus einem echten Menschen, der plötzlich neben ihr auf dem Treidelpfad stand. Er hatte langes Haar und eine Art fleckigen Bart, der ganz schrecklich aussah, so als wäre der Mann krank. Er streckte die Hand nach ihr aus und fasste sie an. Dabei kam er ihr so nahe, dass sie ihn sogar riechen konnte, auch wenn sie ihn jetzt nicht mehr richtig sah, weil das grelle Sonnenlicht sie so blendete. Er war nur noch eine dunkle Gestalt mit funkelnden Rändern. So ähnlich funkelte es auch, wenn die Sonne auf den kleinen Wellen des Kanals schimmerte. In dem Moment fiel es ihr wieder ein. Sie hatte es bei sich. Sie hatte es die ganze Nacht lang geschärft, so wie früher ihr Dad. Sie zog es heraus und hielt es vor sich hin, und das Komische war, dass sie den Mann plötzlich wieder deutlich sehen konnte und er sie so überrascht anstarrte.
Aber eigentlich spielte das gar keine Rolle. Wichtig war nur, dass es einen Ort gab, wo sie hinmusste. Sie wandte sich von dem Mann ab, der sich inzwischen wie ein Narr auf den Boden gesetzt hatte, und rannte den Treidelpfad entlang, der Sonne davon.
Genau wie die Adressen und Telefonnummern vieler anderer Ärzte war auch die von Emma Higgins nicht im Telefonbuch verzeichnet. Das bedeutete, dass drei Telefonate nötig waren – wobei Frieda zwei ziemlich lange Gespräche führen und das Versprechen ablegen musste, sich bald mal Zeit für einen gemeinsamen Drink zu nehmen –, anschließend eine U-Bahn-Fahrt und ein kurzer Fußmarsch, bis sie schließlich vor einem hübschen Reihenhaus in Islington stand, nur ein paar Schritte von der Upper Street entfernt. Vorher anzurufen war ihr zu riskant gewesen. Sie hatte nur eine einzige Chance, und die konnte sie besser von Angesicht zu Angesicht nutzen.
Die Frau, die ihr die Tür aufmachte, trug ein violettes, knielanges Kleid und große Ohrringe. Sie hatte ihr Party-Make-up aufgelegt: die Augen dick mit Kajal umrandet, die Lippen knallrot, die Wangen mit Rouge modelliert. Von drinnen drang leises Stimmengewirr, und aus dem hinteren Teil des Hauses, wo vermutlich die Küche lag, fiel Licht. Wie es aussah, störte sie bei einem Abendessen mit Gästen.
»Sind Sie Dr. Higgins?«
»Ja.« Der Blick der Frau wirkte fragend und leicht verärgert.
»Ich arbeite in beratender Funktion für die Polizei und würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«
»Wie bitte? Um diese Uhrzeit? Wir haben Gäste.«
»Es dauert nur einen Moment. Eine Patientin von Ihnen, Beth – oder Elizabeth – Kersey ist vor einem Jahr verschwunden. Obwohl nach wie vor jede Spur von ihr fehlt, wissen wir inzwischen, dass sie mit einem Mann zu tun hatte, der vor Kurzem ermordet wurde.«
»Beth Kersey? Verschwunden?«
»Ja. Ich frage mich, ob Sie mir etwas über sie erzählen können.«
Dr. Higgins ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Sie sah aus, als würden ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Dann sagte sie mit fast angewiderter Miene: »Sie war eine Patientin von mir, das wissen Sie doch. Was, zum Teufel, fällt Ihnen ein, so spät hier aufzukreuzen und mich nach etwas Vertraulichem zu fragen?«
»Ich interessiere mich gar nicht für irgendwelche medizinischen Details«, entgegnete Frieda. »Ich möchte Beth finden und wüsste daher gern – wenn auch nur in ganz groben Zügen –, welche Risiken mit ihrem Zustand einhergehen.«
»Nein«, antwortete Dr. Higgins, »die Antwort lautet definitiv Nein. Aber ich hätte gern Ihren Namen, damit ich mich wegen Ihres Verhaltens beschweren kann.«
»Da müssen Sie sich hinten anstellen«, meinte Frieda.
»Was soll das heißen? Und außerdem, wenn Sie für die Polizei arbeiten, wie Sie behaupten, wo sind dann Ihre Kollegen? Woher haben Sie überhaupt meine Adresse?«
Ein Mann trat neben sie. Über seiner Jeans trug er ein locker fallendes Baumwollhemd. »Was ist
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