Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
anschwellenden und dann wieder leiser werdenden Stimmen, energisch gerufenen Anweisungen aus Richtung der Ruderboote, die an ihrem Boot vorbeiglitten.
Wenn sie dann wieder aufwachte, fühlte sie sich jedes Mal benommen und schlapp – und schuldig. Wenn er sie so sähe, wäre er wütend. Nein, nicht wütend, sondern enttäuscht. Dieses Gefühl mochte sie gar nicht. Sie musste an die hängenden Schultern ihrer Mutter denken, das tapfere Lächeln, das langsam erstarb, bis es am Ende ganz aus ihrem Gesicht verschwand. Alles war besser, als jemanden zu enttäuschen.
An diesem Tag hatte sie dem Schlaf nachgegeben. Als sie plötzlich mit einem Ruck hochschreckte, wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand. Speichel lief ihr übers Kinn, ihr Haar juckte, und ihre Wange war wundgescheuert vom rauen Bezug der Bank, auf der sie lag. Nicht einmal an ihren Namen konnte sie sich erinnern. Sie war niemand, nur eine unförmige Gestalt ohne Namen, ohne Ich. Sie wartete. Sie verdeutlichte sich, wer sie war. Die Stirn gegen das schmale Fenster gedrückt, starrte sie auf den sich bewegenden Fluss hinaus. Zwei Schwäne segelten elegant vorüber. Böse, böse Blicke.
9
D ieser Fall.« Polizeipräsident Crawford gab sich kaum Mühe, seine Gereiztheit zu verbergen. »Kommen Sie damit allmählich zu einem Ende?«
»Nun ja«, begann Karlsson, »es gibt mehrere …«
»Ich habe mir den vorläufigen Bericht angesehen. Das klingt alles recht eindeutig. Die Frau ist nicht ganz richtig im Kopf.« Der Polizeipräsident klopfte sich mit einem Finger an die Stirn. »Daher spielt das Endergebnis keine allzu große Rolle. Das Opfer wurde im Affekt getötet. Sie befindet sich ja ohnehin schon in einer psychiatrischen Klinik, kann also keinen Schaden mehr anrichten.«
»Wir wissen noch nicht mal, um wen es sich bei dem Opfer handelt.«
»Um einen Drogendealer?«
»Dafür liegen keine Beweise vor.«
»Sie haben sein Foto durch die Vermisstendatei gejagt?«
»Ohne Erfolg. Ich habe vor, die anderen Hausbewohner noch genauer zu befragen. Vielleicht können die uns weiterhelfen.«
»Ich frage mich, ob Sie damit nicht Ihre Zeit vergeuden.«
»Der Mann wurde trotz allem ermordet.«
»Das ist kein Fall wie der mit den vermissten Kindern, Mal.«
»Sie meinen, es ist den Leuten egal?«
»Es geht darum, Prioritäten zu setzen«, antwortete Crawford stirnrunzelnd. »Nehmen Sie wenigstens Jake Newton mit. Zeigen Sie ihm, mit was für einem Mist wir uns rumschlagen müssen.«
Karlsson setzte zu einer Antwort an, doch Crawford ließ ihn nicht zu Wort kommen. »In Gottes Namen, bringen Sie diesen Fall so schnell wie möglich zu Ende!«
An diesem Tag trug Jake eine schmale, gestreifte Kordhose und hellbraune, auf Hochglanz polierte Lederschuhe mit gelben Schnürsenkeln. Als er ausstieg, spannte er seinen Schirm auf, weil es inzwischen in Strömen goss, wobei der Regen langsam in Schnee überging. Während er aufs Haus zusteuerte und dabei genau aufpasste, wo er hintrat, hielt er sich mit einer Hand sein knopfloses Jackett zu. Die Absperrungen waren entfernt worden, die Meute der Neugierigen längst verschwunden, und abgesehen von dem Plastikband, das sich quer über Michelle Doyces Tür spannte, wies nichts mehr darauf hin, dass hier ein Verbrechen geschehen war. Auf dem Gang lag noch derselbe Müll herum, und in der Luft hing derselbe Gestank nach Kot und Fäulnis, der sich sofort in Karlssons Kehle festsetzte und Jake Newton das Gesicht verziehen ließ. Letzterer zog ein großes weißes Taschentuch aus der Jackentasche und schnäuzte unnötigerweise gleich mehrmals hinein. »Ziemlich stickig hier drin, was?«
»Ich schätze, die haben hier keine Putzfrau«, erklärte Karlsson, während er Newton die Treppe hinaufführte und nun ebenfalls achtgab, wo er hintrat.
Später, als er mit Yvette darüber sprach, konnte er nicht genau sagen, welche der drei Befragungen ihn am meisten deprimiert hatte. Lisa Bolianis war die Einsamste im Haus. Sie hatte ein faltiges, gerötetes Gesicht, dünne Arme und Beine, aber die Wampe einer Säuferin. Obwohl sie aussah wie Mitte vierzig, stellte sich heraus, dass sie erst zweiunddreißig war. Durch ihre Alkoholsucht hatte sie sowohl ihre Kinder als auch ihr Zuhause verloren. Sie roch nach billigem Schnaps und sprach mit ausdrucksloser, nuschelnder Stimme. Karlsson entgingen weder die Flaschen unter ihrem Bett noch die schmutzigen Decken, die zusammen mit einer zerrissenen rosa Bettdecke darauf gestapelt lagen. Ihre
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