Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
hakte sie sich bei Frieda unter. »Ihr Zimmer ist gleich da vorn.«
Sie führte sie den Gang entlang, an den Frieda sich nur allzu gut erinnerte, vorbei an einem alten Mann, der fast seine Schlafanzughose verlor. Vor einer Tür blieb sie stehen.
»Sie ist nicht mehr so, wie sie mal war«, erklärte Mrs. Lowe, ehe sie die Tür aufschob und den Blick auf den kleinen, kahlen Raum freigab: dasselbe vergitterte Fenster, dasselbe Bild von der Seufzerbrücke an der Wand, dasselbe Bücherregal, in dem nur eine ledergebundene Bibel stand, dieselbe leere Blumenvase. Nach dem gerahmten Foto von Dean hielt Frieda vergeblich Ausschau, offenbar war es entfernt worden. June Reeve selbst saß nicht mehr in ihrem Sessel, sondern lag mit geschlossenen Augen und einer Sauerstoffmaske über dem Mund im Bett. Ihre Haut wirkte ledrig und hatte die Farbe von Tabakblättern, ihre Brust hob und senkte sich unregelmäßig.
»Ihre Tage auf dieser Welt sind gezählt«, sagte Mrs. Lowe. Sie hatte weiße, große Zähne.
»Spricht sie überhaupt noch?«
»Nein, inzwischen nicht mehr.«
Nachdenklich betrachtete Frieda die Mutter von Dean und Alan, ihren kleinen, fies wirkenden Mund und ihre Falten. Sie hatte Alan als Baby ausgesetzt, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob er überleben oder sterben würde. Sie hatte Dean geholfen, Joanna zu entführen und in Terry zu verwandeln. Dabei hatte sie nie etwas anderes an den Tag gelegt als Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. Nun aber war sie an einem Punkt angelangt, an dem Vorwürfe und Hass sie nicht mehr erreichten. Frieda fragte sich, wovon sie hinter diesem eingefallenen Gesicht wohl träumte.
»Danke.« Frieda wandte sich zum Gehen. Sie wartete, bis Mrs. Lowe die Tür zugezogen hatte. »Bekommt sie jemals Besuch?«
»Keine Menschenseele«, antwortete Mrs. Lowe, die mittlerweile wieder ihr strahlendes Lächeln aufgesetzt hatte.
»Nie?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Ihr Sohn besucht sie auch nicht?«
»Sie meinen, der andere Sohn? Deans Zwilling?«
»Alan. Ja.«
»Nein, der war noch kein einziges Mal da. Was man ihm kaum verdenken kann, oder? Schließlich hat sie sich ihm gegenüber nicht wie eine Mutter verhalten. Sie hat den falschen behalten, sage ich immer.«
»Dann ist sie also ziemlich allein, seit Dean sich umgebracht hat?«
»Womit sie aber kein großes Problem haben dürfte. Ich würde sie nicht gerade als gesellig bezeichnen. An unserem Unterhaltungsprogramm hat sie auch früher nie teilgenommen, als ihr Gedächtnis noch nicht so schlecht war wie jetzt. Sie wollte immer für sich sein. Vielleicht ist es sogar besser so. Ich muss zugeben, dass einige unserer alten Leutchen hier nicht sehr begeistert darüber waren, die Mutter eines teuflischen Monsters …« Für einen Moment wich das Dauerlächeln aus Mrs. Lowes Gesicht, und sie verzog es zu einer Grimasse. »Für so etwas ist es nun zu spät – zu spät für alles. Sie hat nie ihren Frieden mit der Welt geschlossen.«
»Danke für Ihre Hilfe.«
»Ein einziges Mal war jemand da, hat sich aber nicht mal die Mühe gemacht, zu ihr reinzuschauen. Am Empfang wurde nur eine Tüte Doughnuts für sie abgegeben.«
»Doughnuts«, sagte Frieda leise, mehr zu sich selbst als zu Mrs. Lowe.
»Die mochte sie immer sehr gern.«
»Ja«, murmelte Frieda, »ich weiß. Ihr Sohn, Dean, hat sie ihr immer gebracht.«
»Dann muss es dieses Mal jemand anderer gewesen sein.«
Frieda wartete, bis sie etliche Straßen vom River-View-Pflegeheim entfernt war, ehe sie ihr Handy herausholte und die Nummer wählte, die sie an diesem Morgen eingespeichert hatte. Dann marschierte sie zurück zur Haltestelle Gallions Reach, fuhr von dort aber nur bis Canning Town, wo sie in einen Zug nach Stratford umstieg. Es war ein nebliger Tag, und die diesige Luft verlieh dem halb fertigen Olympiadorf etwas Gespenstisches: Aus dem nasskalten Dunst tauchten eingerüstete Gebäude und Teile von Kuppeln und Türmen auf, und unterhalb davon konnte Frieda Lastwagen, Bagger und Scharen von Arbeitern mit Schutzhelmen erkennen.
Nach einem Fußmarsch von fünfzehn Minuten erreichte sie Leytonstone, wo sie in eine lange, gerade, von grauen Nebelschleiern verhangene Straße mit viktorianischen Reihenhäusern einbog. Frieda hatte es nicht eilig, zu Nummer hundertacht zu kommen. Vorher wollte sie in Ruhe ihre Gedanken ordnen und sich überlegen, was sie sagen solle. Dass sie es sagen musste, stand für sie inzwischen außer Frage. Als sie schließlich an der
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