Eisiges Blut
ihn zuwatschelte. Michael holte einige Streifen Schinken hervor, die er gerade aus der Kantine stibitzt hatte, und hielt dem Vogel einen davon hin. Ollie hob seinen mit Flaum bedeckten grauen Kopf, musterte das Fleisch und schnappte es sich mit einer raschen Bewegung. Von Tag zu Tag wurde er einer Möwe ähnlicher.
»Hey, du hast fast meinen Finger erwischt.« Michael legte die restlichen Schinkenstreifen auf den Rand der Holzkiste und stand auf. Als er Bettys und Tinas besorgte Gesichter sah, sagte er: »Keine Angst, Möwen sind Allesfresser.«
»Darum geht es nicht.«
Dann folgte er Tinas Blick und sah zum Eisblock. »Heiliger Strohsack«, sagte er und trat näher. »Ich hatte recht.«
Der Mann war immer noch größtenteils vom Eis verborgen. Wenn sie Dornröschen war, war er dann ihr Märchenprinz? Michael hatte den Eindruck, dass der Mann ein Soldat gewesen war. Im Brustbereich sah er die Andeutung von goldenen Litzen.
Die Vorstellung, dass sie nicht die ganze Zeit allein gewesen war, beruhigte ihn irgendwie.
»Macht mal eine Pause«, sagte er. »Ich muss ein paar Fotos machen, um diesen Moment festzuhalten.«
Rasch baute er ein paar Scheinwerfer um den Eisblock herum auf. Es war ein bitterkalter und grauer Tag, und die Lichter verwandelten das Eis in ein glitzerndes Leuchtfeuer.
»Betty und ich haben gerade überlegt«, sagte Tina vorsichtig, »ob so etwas Außergewöhnliches nicht vielleicht besser intakt bleiben sollte.«
Michael war so mit seiner Arbeit beschäftigt, dass er Tina nicht hörte. Wie konnte er das, was da im Eis steckte, am besten in seinen Bildern einfangen? Das Spiel von Licht und Schatten, ganz zu schweigen von den Reflexionen des Eises, war mörderisch. Doch das war ein Teil der Herausforderung. Er schob die
grüne Schneebrille über seine Wollmütze und warf einen Blick auf den Belichtungsmesser.
»Michael«, sagte Betty, »vielleicht sollten wir eine Pause machen und alles noch einmal überdenken.«
»Was überdenken?«, fragte er.
»Ob wir weitermachen und die beiden Leichen aus dem Eis holen sollen. Die Arbeit erfordert vielleicht umfassende Laboreinrichtungen wie Röntgen oder Kernspintomographie, und das haben wir hier unten nicht.«
»Darryl ist überzeugt, dass er die Ausrüstung und alle Geräte hat, die er braucht«, erwiderte Michael, doch er hielt inne. Vielleicht handelte er überstürzt und fügte seinem Fund, der sich als wahrhaft wunderbare Entdeckung erweisen könnte, Schaden zu.
»Es geht nicht nur darum, sie sicher aus dem Eis zu holen«, fügte Tina hinzu. »Das ist einfach. Das Problem ist, sie hinterher wieder zu konservieren.«
Würde Darryl nicht wissen, wie er das anstellen musste? Und war nicht die gesamte Antarktis eine einzige riesige Kühltruhe? Selbst, wenn sie die Leichen aus dem Eis holten, müsste es doch möglich sein, sie kühl genug zu halten, damit sie nicht verfielen.
Wie immer die Antworten auf diese Fragen lauteten, im Moment hatte er zu arbeiten. Dieser Fund war ein Segen für das
Eco Travel-Magazine
und genau der Stoff, mit dem sich Preise gewinnen ließen. Er musste aufpassen und durfte es nicht vermasseln. Ehe er sich nach dem Unfall in den Kaskaden zurückgezogen hatte, hatte Joe Gillespie, sein Redakteur, tatsächlich sein Bedauern geäußert, dass Michael keine Fotos von der Tragödie gemacht hatte. Manchmal hatte Michael den Verdacht, dass ein Exklusivbericht alles war, das für Gillespie zählte.
Sobald Michael sich für die richtige Kamera entschieden hatte, machte er eine Reihe von Aufnahmen durch das Eis. Zuerst von dem Mann, dessen Gesicht immer noch größtenteils verdeckt war, und dann von der Frau. Die Beschaffenheit des Eises einzufangen,
ohne dass durch die Reflexionen und Lichtbrechungen allzu viel verloren ging, machte die Arbeit extrem kompliziert, aber Michael gefiel es. Die besten Aufnahmen waren immer am schwersten zu bekommen. Auf sein Geheiß machten Betty und Tina sich wieder an die Arbeit, und er schoss ein Dutzend Aufnahmen von ihnen, wie sie das Eis abhobelten oder schnitten. Anschließend machte er noch ein paar Bilder von Ollie, der herübergewatschelt kam, um zu sehen, ob es sich bei den glitzernden Eissplittern auf dem Boden um etwas Essbares handelte.
Der Wind frischte auf, und obwohl die Blechumzäunung fest verschraubt war, begann sie so laut zu klappern, dass man sich kaum noch verständigen konnte. Michael musste schreien, wenn Betty und Tina sich mehr nach rechts oder links, ins Licht oder aus
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