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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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sich, wie ein Vogelvater, der einen Leckerbissen mit zum Nest brachte. Er wartete darauf, dass sie die Flasche nahm, aber sie konnte nicht. Es war zu schrecklich, nach so langer Zeit aus einem Alptraum aufzuwachen, um geradewegs wieder hineingestoßen zu werden, kaum dass das Leben sie wiederhatte.
Wie eine grimmige Erinnerung stand die Flasche vor ihr, ein Memento mori. Sie stand für den Tod, aber gleichzeitig für das Leben, wenn sie verzweifelt genug wäre, es zu wollen. Sie nahm den abscheulichen Geruch des Inhalts wahr und fragte sich, ob das dieselbe Flasche war, die Sinclair ihr an Bord der
Coventry
an die Lippen gehalten hatte. Wenn sie es war, wie war sie dann hierher, an diesen merkwürdigen Ort, gelangt? Hatte einer der Matrosen sie ebenfalls in die aufgewühlte See geworfen, nachdem sie an Sinclair gekettet worden war und nachdem …
    Sie zwang sich, den Gedanken nicht weiter zu folgen, als würde ein Pferdegespann zu einem abrupten Halten gezügelt. Sie konnte nicht daran denken, durfte es nicht zulassen. So lange Zeit hatte sie jeden Gedanken daran verdrängt, dass sie jetzt nicht damit aufhören konnte. Sie musste ihre Gedanken kontrollieren und sie bestrafen wie ungehorsame Kinder, wenn sie zu weit vom Weg abkamen. Alles andere würde zum Wahnsinn führen.
    Wenn sie nicht schon wahnsinnig geworden war.
    »Du musst«, sagte Sinclair und drängte ihr die Flasche auf.
    Aber Eleanor war sich nicht sicher. »Was wäre«, wandte sie zaghaft ein, »wenn nach all dieser Zeit … «
    »Was?«, fragte er unwirsch. Seine Lider sanken herab, bis er die Augen wieder aufriss. »Was, wenn sich nach all der Zeit alles geändert hat?«
    »Es könnte doch sein, dass … «
    »Dass was? Es einen Gott im Himmel gibt, wir in Sicherheit sind und Britannien über alle Meere herrscht?«
    Da war wieder dieses Feuer in seinen Augen. Die lange Zeit im Ozean und im Eis –
Nein
, sagte ihr Verstand,
denk nicht daran, lass es nicht zu
– hatte seine Inbrunst oder seinen Zorn nicht gedämpft. Diese böse Flamme, die auf der Krim entzündet worden war, brannte immer noch. Er war nicht mehr der Lieutenant Copley, der einst fortgesegelt war, um Ruhm zu erlangen. Er war der Lieutenant Copley, der dreck- und blutverschmiert zwischen den
Toten und Sterbenden auf einem mondbeschienenen Schlachtfeld gefunden worden war.
    »Soll ich es zuerst probieren?«, fragte er. Der orange Schimmer des Feuers färbte sein Gesicht rötlich. Als sie nicht antwortete, hob er die Flasche, legte den Kopf zurück und nahm einen tiefen Schluck. Sein Adamsapfel zuckte, als er schluckte, und dann noch einmal, als die Flüssigkeit wieder hochkam. Er hustete und würgte, dann setzte er erneut die Flasche an die Lippen und zwang sich, mehr von dem Inhalt herunterzubringen. Als er die Flasche wieder in den Schoß sinken ließ, hatte sein heller Schnauzbart Flecken von der Farbe eines Blutergusses.
    »Hier«, sagte er, »es ist ganz in Ordnung.« Er lächelte, und seine Zähne waren ebenfalls befleckt. Er schob ihr die Flasche entgegen.
    »Was wir brauchen«, entgegnete sie, den Blick auf die Flasche geheftet, »ist etwas zu essen. Und Wasser. Sauberes Wasser und frisches Essen.«
    »Da spricht Miss Nightingale«, spottete Sinclair. »Wir werden diese Dinge auch bekommen. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass du im Augenblick etwas anderes brauchst.«
    Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er recht hatte. Zumindest hätte er
früher
recht gehabt. Aber war es nicht möglich, dass dieser Fluch aufgehoben war? Könnte es nicht sein, dass sie durch ein seltsames Wunder nicht nur aus ihrem Gefängnis befreit worden waren, sondern dass noch ein weiteres Wunder geschehen war? Dass sie diese widerwärtige Nahrung, die vor ihr stand, nicht länger benötigte?
    »Wir wissen nicht, wo wir sind«, sagte Sinclair sanft. »Und wir wissen nicht, was uns erwartet.« Er klang ganz und gar vernünftig, aber Eleanor war an solche plötzlichen Veränderungen gewöhnt. Selbst in den Briefen, die er nach Hause geschrieben hatte, waren sie ihr aufgefallen.
    »Ich glaube, dass wir jede Gelegenheit ergreifen müssen, wann
und wo sie sich bietet«, sagte er und blickte vielsagend auf die Flasche.
    Eleanor musste ihre Sitzhaltung auf dem Boden verändern, um einen anderen Teil ihrer Kleidung zu trocknen und zu wärmen. Besorgt fragte sie sich, wie lange sie hierbleiben konnten, ohne entdeckt zu werden. »Können wir sie nicht einfach mitnehmen, egal, wohin wir gehen?«
    »Ja«,

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