Eisiges Blut
Hundeschlitten machten.
Michael musste nur eine Sekunde nachdenken, ehe er antwortete: »Walhalla.«
In den ersten Minuten gewöhnten sich Sinclair und Eleanor einfach nur daran, wieder zu atmen. Dann daran, sich zu bewegen. Und schließlich daran, zu leben … obwohl sie keine Ahnung hatten, wo und wann.
Es war Eleanor, die die Quelle für die Wärme im Raum entdeckte, eine Art metallenes Kamingitter, das unten am Sockel rot glühte. Sie bückte sich in ihrer nassen Kleidung und versuchte, das Feuer dahinter zu entdecken oder den verbrennenden Zunder oder Gas zu riechen, aber sie hörte nur ein entferntes Brummen und roch überhaupt nichts. Trotzdem kroch sie näher heran und drängte Sinclair flüsternd, näherzukommen.
Instinktiv sprachen sie beide so leise wie möglich.
»Es ist ein Feuer«, sagte sie, »wir können unsere Kleider trocknen.«
Sinclair half ihr, den durchnässten Schal abzulegen, dann drapierten sie ihn über einen Stuhl, den er näher heranzog. Dann zog sie ihre Schuhe aus und stellte sie vor den Rost.
»Du auch«, sagte sie. »Bevor irgendetwas passiert … « Was dieses Etwas sein könnte, überstieg ihre Vorstellungskraft bei weitem. Sie wusste nicht, ob sie unter Freunden oder Feinden waren, ob in der Türkei oder in Russland oder Tasmanien. Sie konnten sich nicht einmal wirklich sicher sein, dass sie tatsächlich lebendig waren.
Aber sie hatten keine Zeit, sich mit solchen Überlegungen aufzuhalten.
»Zieh deine Jacke aus«, sagte sie. »Und deine Stiefel.«
Er streifte die Uniformjacke ab, und Eleanor breitete sie zum Trocknen aus. Die Stiefel stellte sie neben ihre Schuhe. Er löste seinen Degen und legte ihn zu den nassen Kleidern, behielt ihn aber griffbereit.
Dann schmiegten sie sich vor dem Ofen eng aneinander und starrten einander in die Augen. Sie fragten sich, was der andere wusste oder verstand … oder erinnerte.
Eleanor fürchtete, dass sie sich an zu viel erinnerte. So lange – wie lange? – hatte sie nichts anderes getan … nur geträumt und sich treiben lassen und sich an alles erinnert.
Immer wieder und immer wieder.
Während ihre Kleider trockneten und sie die Arme fest um die Knie geschlungen hatte, dachte sie an jene Nacht, in der sie genau wie jetzt vor einem Feuer gesessen hatte, zusammen mit Moira, in ihrem kalten Raum im obersten Stock der Pension in London. An diesem Abend hatte Miss Nightingale ihre Absicht verkündet, mit einer kleinen Schar bereitwilliger Krankenschwestern zu den Schlachtfeldern auf die Krim zu reisen.
Sinclair hustete und hob seine kalte weiße Hand zum Mund. Mit steifen Fingern strich Eleanor ihm über die Stirn. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, und sie hatte es bei so vielen verwundeten Soldaten getan, die in den Lazaretten in Skutari und Balaklawa lagen und Höllenqualen litten. Jetzt sah Sinclair sie an, seine Augen waren rotgerändert und sein Blick wirr, und
sagte: »Was ist mit dir? Bist du …?«, und dann, aus Mangel eines besseren Wortes, schloss er: » … in Ordnung?«
»Ich bin … «, erwiderte sie, ohne zu wissen, was sie sagen sollte. Offensichtlich war sie am Leben. Mehr wusste sie nicht. Sie fühlte sich ebenso verloren wie er, durchgefroren bis ins Mark, trotz der bemerkenswert gleichmäßigen Wärme des Kamins. Und sie war schwach, vor ganz gewöhnlichem Hunger genauso wie vor unaussprechlichem Verlangen.
Es kam ihr in den Sinn, dass sie wieder sterben könnte, vielleicht schon bald, und sie fragte sich, ob es sich dieses Mal anders anfühlen würde.
Schlimmer konnte es nicht werden.
Sinclairs Blick schweifte durch den Raum, und auch Eleanor sah sich um. Etwas, das aussah wie eine riesige Spinne, versuchte aus einem rechteckigen, mit Wasser gefüllten und hellviolett erleuchteten Glasbecken zu kriechen. Es gab lange Tische wie in einer Schänke, mit darin eingelassenen Schalen, die an Spülsteine erinnerten. Vor einem Stuhl stand ein schwarzer Metallapparat und eine weiße Box. Daneben entdeckte sie, wahrscheinlich im selben Moment wie Sinclair, eine Weinflasche. Er war bereits aufgesprungen.
Er nahm die Flasche, wischte mit dem weiten Ärmel seines Hemdes über das Etikett und betrachtete sie genauer.
»Ist es das?«, fragte sie.
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte er und zog den Korken heraus. Er hielt seine Nase über die Öffnung und zuckte zurück.
Jetzt wusste sie, dass es die richtige Flasche war.
Auf Strümpfen tappte er zu ihr zurück und stellte die offene Flasche zwischen
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