Eisiges Blut
Nightingale kümmerte sich um alle Soldaten gleichermaßen, ob sie Adlige oder gemeine Rekruten waren. Indem sie mit solchen althergebrachten Gepflogenheiten brach, erwies sie sich als Verräterin ihrer eigenen Klasse und gewann nur wenige Freunde unter den Offizieren, erfuhr indes von den Truppen eine unsterbliche Verehrung – und von Eleanor Ames.
An ihrem vierten Abend in Skutari kam Miss Nightingale zu Eleanor und bat sie, sie bei ihrer nächtlichen Runde zu begleiten. Eleanor hatte gerade ihren Wasserkrug an der tröpfelnden Quelle des Lazaretts gefüllt, obwohl das gelbe Wasser kaum genießbar war. Miss Nightingale trug ein langes graues Kleid, hatte ein weißes Taschentuch um ihr schwarzes Haar gebunden und hielt eine türkische Laterne mit gebogenem Griff an der flachen Messingschale in der Hand. »Und bitte bringen Sie Ihren Krug mit.«
Eleanor, die selten direkt von Miss Nightingale angesprochen wurde, füllte den Krug bis zum Rand, steckte sich ein paar Verbände unter den Arm und folgte ihr gehorsam, wobei sie sich stets ein paar Schritte hinter Miss Nightingale hielt. Eleanor war erschöpft, denn es war ein weiterer zermürbender Tag gewesen. Doch obwohl sie wusste, dass sie jetzt noch stundenlang auf den Beinen sein würde, hätte sie sich diese Gelegenheit um nichts entgehen lassen. Das Lazarett war riesig, und eine Runde durch alle Krankensäle, wie Miss Nightingale sie Nacht für Nacht unternahm, war eine Strecke von vier Meilen. Wo immer sie hinkamen, traten selbst die feindseligsten Chirurgen und unverschämtesten Krankenwärter zur Seite und die beiden Frauen wurden von den leidenden Soldaten mit Dankesgemurmel und Respektbezeugungen begrüßt. Ein Junge, der nicht älter als siebzehn
sein konnte, lag weinend auf seiner Pritsche. Beide Beine waren unterhalb der Knie amputiert, und Miss Nightingale hielt an, um ihn zu trösten und ihn auf die Stirn zu küssen. Einem anderen Soldaten, dem ein Arm und ein Auge fehlte, bot sie eine Tasse Wasser an, die er mit der zitternden linken Hand festhielt. Einen Augenblick fragte Eleanor sich, ob das Zittern von der körperlichen Schwäche herrührte oder vom Schock, weil eine so wohlerzogene Dame sich auf diese Weise um ihn kümmerte.
Die meisten Krankensäle lagen im Dunkeln, nur das Mondlicht fiel durch die zerschlagenen Fenster und losen Läden. Eleanor musste gut auf ihre Füße Acht geben, damit sie nicht auf einen Schlafenden oder Toten trat. Miss Nightingale, eine schlanke Frau von aufrechter Haltung, bewegte sich zielsicher zwischen den Pritschen und Patienten. Der Schein ihrer Lampe fiel wie ein Segen auf die schmutzigen, misshandelten und blutigen Gesichter. Mehr als einmal sah Eleanor, wie sich ein Soldat auf dem Stumpf eines fehlenden Gliedes vorbeugte und die Lippen in die Luft presste, nachdem Miss Nightingale vorübergegangen war.
Sie küssen ihren Schatten,
dachte sie.
Mehrmals blieb Miss Nightingale stehen, gab einem durstigen Soldaten zu trinken oder ersetzte einen verschmutzten Verband durch einen neuen. Doch angesichts der Größe des Lazaretts und der unendlichen Not konnte sie den meisten, an denen sie vorbeigingen, nur ein Lächeln oder ein Wort schenken. Für Eleanor war klar, dass dieser Besuch ein Bündnis war, ein heiliges Abkommen zwischen Miss Nightingale und den Soldaten, und sie fühlte sich geehrt, dass sie Zeuge davon sein durfte.
Zur gleichen Zeit klopfte ihr das Herz bis zum Hals. In jedem Krankensaal, den sie betraten, und bei jedem Bett, an dem sie vorüberkamen, hielt sie Ausschau nach Lieutenant Sinclair Copley. Sie sehnte sich verzweifelt danach, ihn wiederzusehen, und hatte zugleich Angst davor, wie sie ihn vorfinden würde, sollte es eines Tages dazu kommen. Jeden Morgen überprüfte sie die Gefallenenlisten,
wusste jedoch, dass diese unvollständig waren und bestenfalls nachlässig geführt wurden. Sinclair könnte irgendwo stumm leiden, bewusstlos von einem Angriff oder im Fieberdelirium, nur einen Krankensaal von ihr entfernt. So gut es ging, hatte sie Nachforschungen angestellt und erfahren, dass seine Brigade, das 17 . Lancer-Regiment, unter dem Befehl von Lord Lucas und Lord Cardigan zur Unterstützung der Belagerung von Sewastopol entsendet worden war. Doch von der Front fanden die Nachrichten nur langsam zu ihnen, und selbst wenn sie das Lazarett erreichten, waren sie nicht zuverlässiger als die Listen.
Sie hatten ihre Runde fast beendet und gingen durch den letzten Saal, als Eleanor meinte, jemanden
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