Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
Vom Netzwerk:
altersschwachen Dachstuhl. »Verdammt seien diese Steine und diese Balken.« Mit einem Arm hatte er den Kerzenhalter vom Altar gefegt, bis er auf dem Boden kreiselte. Er stampfte das Kirchenschiff hinunter, und die Absätze seiner Stiefel knallten auf den Steinfliesen. Dann riss er die knarrende Tür zum Friedhof auf und brüllte dem bleiernen Himmel seine Verwünschungen entgegen. Die einzige Antwort war ein Chor aus dem verzweifelten Gejaule der Schlittenhunde, die sich zwischen den Holzkreuzen und Grabsteinen zu Kugeln zusammengerollt hatten.
    Eleanor fürchtete ihn vor allem in solchen Momenten, in denen er den Himmel herausforderte. Sie war überzeugt, dass er seine Antwort bereits in Lissabon erhalten hatte, und sie hatte keine Lust, dieses Urteil ein zweites Mal zu vernehmen.
    »Sinclair«, rief sie zaudernd und stützte sich an den Türrahmen
zur Sakristei, »sollten wir die Hunde nicht in die Kirche holen? Sie werden sterben, wenn sie so schutzlos dort draußen bleiben müssen.«
    Er warf den Kopf herum, und in seinen Augen schimmerte dieser wahnsinnige Fieberglanz, der ihr in Skutari zum ersten Mal aufgefallen war.
    »Ich werde ihnen schon einheizen«, brummte er boshaft. Dann stolzierte er in seinem Wintermantel hinaus in den Sturm, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die Tür hinter sich zu schließen, so groß war seine Gleichgültigkeit den feindseligen Elementen gegenüber. Eine Wolke aus Eis und Schnee wirbelte durch die Kirche, dann hörte sie das Bellen der Hunde, als Sinclair sie vor den Schlitten schirrte.
    Eleanor schlang den Mantel eng um sich, jenen Mantel, der aus dem wundersamen Stoff gemacht war, und ging zur offenen Tür. Sie sah Sinclair hinten auf dem Schlitten, wie er fluchend die Hunde antrieb, während sie den verschneiten Hügel hinunterrannten. Als sie außer Sicht waren, hatte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das raue Holz gestemmt und die Tür zugedrückt.
    Die Anstrengung erschöpfte sie, und sie ließ sich auf die letzte Kirchenbank sinken. Aus Angst, ohnmächtig zu werden, beugte sie sich vor und stützte den Kopf auf die Banklehne vor sich. Das Holz war kalt, aber nicht vollkommen glatt, und ganz in der Nähe konnte sie ein paar Worte erkennen, die jemand hineingeschnitzt hatte. War es ein Name? Doch was immer es war, es war kein Englisch, und die Buchstaben waren beinahe abgewetzt. Alles, was sie noch erkennen konnte, waren einige Ziffern. Ein Datum.
25 . 12 . 1937
. Weihnachten 1937 . Während ihr Blick darauf ruhte, dachte sie über die Information nach. 1856 hatten Sinclair und sie sich auf der
Coventry
eingeschifft und die unglückselige Reise angetreten. Wenn es sich bei dieser Inschrift tatsächlich um ein Datum handelte, dann war es einundachtzig Jahre, nachdem man sie ins Meer geworfen hatte, hier eingeschnitzt worden.
    Einundachtzig Jahre. Zeit genug, damit jeder, den sie kannte, und jeder, der sie kannte, gestorben war.
    Dann machten ihre Gedanken einen Satz nach vorn, denn dieser Ort war offensichtlich seit Jahren verwaist, wahrscheinlich seit Jahrzehnten. Wie viele Jahre kamen also noch hinzu? Wie lange, fragte sie sich, hatte sie im Eis am Grunde des Ozeans geschlafen? Waren Jahrhunderte vergangen? In welcher Welt befand sie sich jetzt, durch welches Unglück auch immer?
    Sie zog einen Handschuh aus und strich mit dem Finger über die Ziffern im Holz, als wollte sie sich vergewissern, dass sie tatsächlich die Wahrheit sagten. Zunächst war allein diese Wahrnehmung aufregend, die Berührung überwältigend. Sie war immer noch nicht daran gewöhnt, etwas körperlich zu fühlen. Nach so langer Zeit im Eis war ihre Haut sogar für sie selbst etwas Neues, fast Fremdes. Sinclair und sie hatten einander nur selten berührt. Natürlich war da immer die Frage des Anstands, denn ihre geheime und unvollendete Verbindung in der portugiesischen Kirche zählte in ihren Augen nicht. Und an dem eisigen und schrecklichen Ort, an dem sie jetzt waren, konnte nichts die Leidenschaft zwischen ihnen wieder entfachen noch sich auch nur ein warmer Gedanke entwickeln.
    Tief in ihrem Herzen wusste Eleanor, dass noch mehr zwischen ihnen stand. Etwas, das immer da sein würde, als ständige Mahnung und stets gegenwärtiger Vorwurf. Es band sie an Sinclair, vielleicht für alle Ewigkeit, und trennte sie zugleich voneinander. Jeder von ihnen konnte es an der Blässe des anderen und dem verzweifelten Blick sehen, in dem sich das drängende Verlangen und der unstillbare Durst

Weitere Kostenlose Bücher