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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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er die Kamera wieder unter den Parka, zog die Handschuhe an und ging auf den Altar zu. Er meinte, ein scharrendes Geräusch zu hören und blieb stehen. Konnte es hier immer noch Ratten geben? Das Scharren hörte auf. Ein altes, in Leder gebundenes Buch, dessen Titel mit der Zeit unleserlich geworden war, lag auf dem Altartisch. Michael machte einen weiteren Schritt, und das Geräusch ertönte erneut, diesmal etwas lauter. Es kam von hinter dem Altar, wo er jetzt eine Tür entdeckte, die mit einem schwarzen eisernen Riegel verschlossen war. Vielleicht, dachte er, hatte der Pastor dort früher gelebt. Oder es war ein Lagerraum für irgendwelche wertvollen Gegenstände, Abendmahlkelche, Kerzenhalter und Bibeln, die die Kirche einst besessen hatte.
    Er ging um den Altar herum, und plötzlich hörte er etwas, das ihn abrupt stehen blieben ließ.
    Er ging weiter, und er hörte es wieder, deutlicher. Es war eine Stimme – eine Frauenstimme.
    »Öffne die Tür! Bitte, ich ertrage es nicht! Sinclair, mach die Tür auf!«
    Sinclair? Michael zog einen Handschuh aus, damit er den Riegel zurücklegen konnte. Durch das Holz hörte er die Frau schwer atmen, fast schluchzen.
    »Ich kann nicht allein sein! Lass mich nicht hier!«
    Er schob den Riegel zurück und stieß die knarrende Tür auf.
    Vor Verblüffung wusste er nicht, was er sagen sollte. Die junge Frau, in einen viel zu großen orangeroten Daunenmantel gehüllt, taumelte zurück. Ihr Gesicht war weiß vor Furcht. Sie hatte lange braune Haare, die ihr ins Gesicht fielen, und grüne Augen, die selbst in diesem Dämmerlicht durchdringend blickten. Sie wich hinter einen Holztisch zurück, auf dem eine Flasche Wein stand. Neben dem Tisch glimmte in einem schmiedeeisernen Ofen ein schwaches Feuer. In einer Ecke des Raumes waren zerrissene Gesangbücher und kantige Holzscheite aufgehäuft.
    Sprachlos starrten sie sich an. Michaels Gedanken überschlugen sich. Er kannte diese Frau. Diese Augen hatte er zum ersten Mal auf dem Meeresgrund gesehen, und dort war ihm auch schon die Brosche aus Elfenbein aufgefallen, die er jetzt an ihrer Brust erkannte. Doch da hatte sie unter einer Schicht aus milchigem Eis geruht. Dornröschen, die schlafende Schönheit.
    Aber sie schlief nicht, und sie war auch nicht tot.
    Sie lebte und atmete, schwer und stockend.
    Michaels Verstand erlitt eine Art Schock. Die Frau stand direkt vor ihm. Nur wenige Schritte entfernt kauerte sie, aber er traute seinen eigenen Augen nicht. Die Frau, die eingefroren war, bewegte sich und war für alle seine Sinne wahrnehmbar. Seine Gedanken schwärmten in ein Dutzend Richtungen aus, auf der Suche nach vernünftigen Erklärungen, doch alle kehrten sie mit leeren Händen zurück. Aber welche Erklärung konnte es geben? Scheintod? Eine lebhafte Halluzination, aus der er jeden Moment aufwachen konnte? Nichts, was ihm einfiel, traf auf die entsetzte
junge Frau zu, die schwach und bleich nur wenige Schritte vor ihm stand.
    Er hob seine bloße Hand, um sie zu beruhigen, und stellte fest, dass seine Finger leicht zitterten. »Ich werde Ihnen nichts tun.«
    Sie schien nicht überzeugt zu sein und presste sich an die Wand neben dem Fenster.
    Langsam, und ohne den Blick von ihr abzuwenden, zog er den Handschuh wieder über seine fast gefühllose Hand. Was sollte er noch sagen? Was sollte er tun? »Mein Name ist Michael … Michael Wilde.«
    Der Klang seiner eigenen Stimme beruhigte ihn seltsamerweise.
    Doch sie anscheinend nicht. Sie antwortete nicht und ihr Blick huschte im Raum herum, als schätzte sie ihre Fluchtchancen ein.
    »Ich bin von Point Adélie gekommen.« Doch er vermutete, dass ihr das nichts sagte. »Von der Forschungsstation.« Würde sie damit mehr anfangen können? »Da, wo Sie waren. Bevor … Sie hierher kamen.« Obwohl er wusste, dass sie Englisch mit einem britischen Akzent sprach, war er nicht sicher, ob seine Worte überhaupt irgendeinen Eindruck bei ihr hinterließen. »Können Sie mir sagen … wer Sie sind?«
    Sie leckte sich über die Lippen und strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Eleanor«, sagte sie mit leiser, aber erregter Stimme. »Eleanor Ames.«
    Eleanor Ames. Im Geiste wiederholte er den Namen ein paar Mal, als könnte er ihn dadurch zu einem Teil der Wirklichkeit werden lassen.
    »Und Sie kommen aus … England?«, wagte er sich weiter vor.
    »Ja.«
    Er legte eine Hand auf die Brust und sagte: »Ich komme aus Amerika.« Die ganze Szene war so absurd, dass er fast lachen

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