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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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interpretieren? Hatte es überhaupt irgendeine Bedeutung für sie?
    Aus welcher Welt, aus welcher Zeit, war sie gekommen?
    »Wir müssen gehen«, sagte Michael. Eleanor blieb sitzen und versuchte offensichtlich, ihre Gedanken zu ordnen. Unbeweglich wie eine Statue saß sie da, so wie er sie im Eis gesehen hatte.
    So still, wie Kristin in ihrem Krankenhausbett gelegen hatte.
    Das Schneemobil kam näher, und das Dröhnen des Motors drang in die leere Kirche. Dann erstarb das Geräusch.
    Eleanor sah Michael unverwandt an, als versuchte sie ein verwirrend schwieriges Puzzle zu lösen – genau wie er selbst. Er konnte sich nur annähernd vorstellen, welche Fragen ihr durch den Kopf gingen und wie viele Unbekannte sie zu berücksichtigen hatte. Sie versuchte Leben zu retten und zu schützen, und zwar nicht nur ihr eigenes.
    »Hallo?«, rief Lawson. »Irgendjemand zu Hause?« Seine Schritte hallten auf dem Steinfußboden wider.
    Eleanors Finger umklammerten die schäbige Decke.
    Aus Angst, das Falsche zu sagen, schwieg Michael.
    »Hey, Michael, ich weiß, dass du hier irgendwo steckst!«, rief Lawson und schlenderte auf den Altar zu. »Wir müssen los!«
    Eleanors Miene spiegelte ihre Qual und eine Erschöpfung, wie Michael sie erst einmal in seinem Leben gesehen hatte. Damals hatte ein Mann die ganze Nacht versucht, ohne Hilfe sein Haus vor einem Waldbrand in den Kaskaden zu retten. Ohne Erfolg.
    Sie hustete, war aber zu schwach, um ihre Hand vor den Mund zu halten.
    »Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang niedergeschlagen und resigniert.
    »Natürlich. Alles, was Sie möchten.«
    Lawson war dicht genug, dass Michael das Quietschen seiner Stiefel draußen vor der Tür hören konnte.
    »Welches
Jahr
haben wir?«

34 . Kapitel 16 .Dezember, 11 : 30 Uhr
    Als Sinclair erneut losgefahren war, war der Wind noch schwach gewesen, doch er frischte schnell auf. Er hatte die Hunde an den baufälligen Gebäuden der Walfangstation und an der Schmiede vorbeigelenkt. In Gestellen an der Wand standen immer noch Dutzende von Harpunen, so lang wie die Lanze, die er im Krieg getragen hatte. Er hatte sich in Richtung Nordwesten gehalten, wo er eine kleine Erhöhung aus Eis entdeckt hatte, die alles, was dahinter lag, verbarg. Er zweifelte daran, dass er auf der anderen Seite irgendetwas finden würde, aber hatte er eine Wahl? Sollte er sich und Eleanor der Fürsorge jener ausliefern, denen sie nur knapp entronnen waren? Sinclair vertraute niemandem … und würde es auch nie wieder tun.
    Selbst seiner Liebsten nicht, so traurig es auch war. Ehe er endgültig aufbrach, hatte er Eleanor in der Sakristei eingeschlossen, denn bei ihrem derzeitigen geschwächten Zustand wusste er nicht, was sie tun würde. Er fürchtete, dass sie, wenn sie aufwachte, einem plötzlichen Impuls folgen und versuchen würde, sich selbst zu töten. Wie genau das gehen sollte, wusste er zwar nicht. Der Fluch, der auf ihnen lastete, forderte einen furchtbaren Tribut, bot ihnen jedoch Schutz vor Krankheiten, die jeden anderen Menschen umbrachten. Die Cholera, die Ruhr oder das mysteriöse Krimfieber konnten ihnen nichts anhaben. Und er hatte sie hundert Jahre, oder wie lange auch immer es gedauert hatte, am
Grund des Meeres überleben lassen. Doch was für eine teuflische Substanz ihnen auch das ewige Leben schenkte, er vermutete, gegen eine körperliche Zerstörung war sie machtlos. Sinclair starrte hinunter auf die Rückseite seines zerfetzten Stiefels, wo der Hund sich in seiner Wade verbissen hatte. Die Wunde darunter hatte aufgehört zu bluten, sie begann sogar zu heilen, aber auf eine unbestimmte Weise schien es kein lebendiges Fleisch zu sein. Es war wie ein Flicken, wie Schorf oder ein Verband, der ein gehendes, sprechendes und atmendes Skelett zusammenhielt. Er konnte brechen, wie es schien, aber nicht welken.
    Das entsprach nicht gerade dem Motto der Brigade, dachte er ironisch. Es war weder Tod noch Ruhm, sondern eine Art Zwischenstadium, das ihn an die nutzlosen Tage erinnerte, die die Leichte Brigade in der Krim zu ertragen gezwungen war.
    Wochenlang hatten sie nichts anderes getan als zu warten und von ihren Stellungen aus die Bewegungen der Infanterie zu beobachten. Sie warteten auf den entscheidenden Moment, der nie zu kommen schien. Unter dem Kommando von Lord Lucan und Lord Cardigan, zwei Männern, Schwäger noch dazu, die einander abgrundtief hassten, wurde das 17 . Lancer-Regiment von einem abgelegenen Außenposten

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