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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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windigsten, trockensten, kältesten und ödesten Ort der Erde. Es war früher Nachmittag, aber am Point Adélie war es rund um die Uhr hell. Auf der Südhalbkugel war jetzt Sommer, und am Südpol ging die Sonne gar nicht mehr unter. Wie eine abgegriffene Münze stand sie am nördlichen Horizont und tauchte alles in ein gedämpftes Licht, nur durchbrochen von Phasen blendender Helligkeit oder wolkenverhangenen Schattens. Im Verlauf der nächsten Monate würde die Sonne langsam über den Himmel wandern und zur Wintersonnenwende am 21 .Dezember ihren Zenit erreichen, ehe sie Ende April wieder vollkommen verschwinden würde. Dann würde der Mond über den Himmel herrschen wie jetzt die Sonne.
    Obwohl Michael sich vorgenommen hatte, wach zu bleiben, um sich später an jeden Moment der Reise erinnern zu können, fiel es ihm immer schwerer. Er fühlte sich, als sei er bereits seit Tagen unterwegs, von Tacoma nach Los Angeles, von Los Angeles nach Santiago, und jetzt von Santiago nach Puerto Williams, der südlichsten Stadt der Welt. Er zog die Plastikblende am Fenster hinunter und schloss die Augen. Im Flugzeug war es viel zu warm, und seine Füße schwitzten in den dicken Wanderstiefeln. Doch er war zu müde, um sich vorzubeugen und die Stiefel aufzuschnüren. Er lehnte sich auf dem unbequemen Sitz zurück und spürte die Knie seines Hintermannes durch die dünne Lehne an seinem Rücken. Trotzdem fiel er kurz darauf in den Schlaf. Das gleichförmige Dröhnen der Maschinen, die Enge der Kabine, das immer gleiche Licht …
    Wie üblich begann er von Kristin zu träumen, von einer
Gelegenheit, bei der sie zusammen glücklich gewesen waren. Manchmal träumte er, sie würden in Oregon Kajak fahren oder am Yucatán Gleitschirm fliegen, doch je länger er träumte, desto düsterer und beunruhigender wurden die Träume. Oft geriet er dabei in diesen unheimlichen Zustand, in dem er schlief, sich aber gleichzeitig bewusst zu sein schien, dass er träumte. Dann versuchte er seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, ohne dass es ihm je gelang. Ehe er sich versah, fand er sich auf dem kargen Felsvorsprung in den Kaskaden wieder und schloss Kristin gegen die Kälte fest in die Arme. Er drückte sie so heftig an sich, dass seine Arme schmerzten, und presste die Füße so stark gegen die Felswand, dass er unterhalb der Knöchel jedes Gefühl verloren hatte. Er sprach mit ihr und sagte, wie ihr Vater sich aufregen würde und dass ihre Schwester behaupten würde, sie stelle sich furchtbar an. Als er aufwachte, weil der Flugbegleiter ihn schüttelte und ihm sagte, er solle sich für die Landung aufrecht hinsetzen, stellte er fest, dass er seinen Rucksack fest umklammert hielt. Seine Beine waren in den metallenen Fußstützen unter dem Vordersitz verhakt.
    Dank der Espressos war Darryl hellwach und grinste ihn an. »Sehen Sie aus dem Fenster!«, brüllte er ihm über den Motorenlärm hinweg zu. »Es ist auf Ihrer Seite.«
    Michael setzte sich auf, rieb sich über die Bartstoppeln am Kinn und schob die Sonnenblende nach oben. Er war fasziniert von dem unwirklichen Licht, bei dem er am liebsten die Augen geschlossen oder den Blick abgewendet hätte. Tief unter sich erkannte er die Südspitze des südamerikanischen Kontinents, die sich wie ein Schuh verjüngte, bis sie sich im Nichts zu verlieren schien. Hier trafen der Pazifik und der Atlantische Ozean aufeinander. Am äußersten Rand des Schuhs erkannte er einen winzigen schwarzen Punkt.
    »Puerto Williams«, rief Darryl begeistert. »Können Sie es sehen?«
    Michael musste lächeln. Irgendwie mochte er diesen Kerl, auch wenn man sich erst an ihn gewöhnen musste. Er streckte die Daumen in die Höhe.
    Der Pilot gab einige Anweisungen auf Spanisch, und Michael vermutete, dass es so etwas bedeutete wie »Bitte bringen Sie Ihren Sitz in eine aufrechte Position«. Dann hielt das Flugzeug steil auf eine lange braune Reihe spitzer Berge zu. Als sie auf einer Höhe mit dem Gebirge waren, das sie vor dem Ostwind schützte, verloren sie noch schneller an Höhe. In Michaels Ohren knackte es, und der Pilot drosselte den Motor. Einen Augenblick fühlte es sich an, als befände sich das Flugzeug im freien Fall, bis das Fahrwerk rumpelnd ausgefahren wurde und Michael spürte, wie die Nase des Flugzeugs wieder ein Stück in die Höhe ging. Die Motorengeräusche wurden merklich leiser, und das Flugzeug schien wie eine Möwe über die Schotterpiste dahinzugleiten. Mit einem heftigen Stoß setzte es auf

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