Eisiges Blut
nur sein mochte. Zum Glück war er nicht eingeschaltet. Eleanor konnte unmöglich alles Neue auf einmal aufnehmen. An den Wänden hingen gerahmte Poster, die ohne Zweifel von irgendeiner Regierungsbehörde gespendet worden waren, denn jedes zeigte einen Moment des nationalen Triumphes. Auf einem war das Olympia-Hockeyteam der Vereinigten Staaten bei der Siegesfeier 1980 zu sehen, und auf einem weiteren Bild stand Chuck Yeager mit einem Helm in der Hand neben der X- 1 , mit der er als erster Mensch die Schallmauer durchbrochen hatte. Vor dem letzten Plakat blieb Eleanor stehen. Es zeigte Neil Armstrong im Raumanzug, wie er gerade auf dem Mond die amerikanische Flagge hisste.
Bitte nicht,
dachte Michael.
Das wird sie mir nie glauben.
»Ist er in einer Wüste?«, fragte sie. »Nachts?«
»So ähnlich.«
»Er ist fast genauso angezogen wie wir hier.« Sie stellte den
Becher auf den Fernseher, zog ihren Mantel aus und legte ihn auf das abgenutzte Kunstledersofa. Sie trug wieder ihre eigene Kleidung, die sie inzwischen gewaschen und gereinigt hatte. Auf Michael wirkte sie wie eine Figur aus einem Gemälde. Das Kleid war dunkelblau, mit weißen Manschetten, weißem Kragen und bauschigen Ärmeln. An der Brust trug sie die helle Brosche aus Elfenbein. Die Schuhe aus schwarzem Leder waren bis über die Knöchel geschnürt. Die Haare hatte sie nach hinten gekämmt und mit einem bernsteinfarbenen Kamm hochgesteckt, den er noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie warf einen Blick auf den Tisch, an dem er gesessen hatte, und fragte: »Habe ich Sie bei Ihrer Arbeit gestört?«
»Nein, nein, kein Problem.« Die Seiten mit Ackerleys Bericht waren das Letzte, das er sie sehen lassen wollte. Er ging schnell zurück und schob die Papiere zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Die Anzeige von Sam Adams Lager lag obenauf.
»Sie sind besorgt«, stellte sie fest.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie blicken dauernd zur Tür. Haben Sie wirklich solche Angst, man könnte mich entdecken?«
Ihr entging aber auch nichts. »Es ist nicht meinetwegen«, entgegnete er, »sondern um Ihretwillen.«
»Immerzu tun Menschen etwas um meinetwillen«, sagte sie nachdenklich. »Doch seltsamerweise bin stets ich diejenige, die darunter zu leiden hat.«
Sie ging zum Klavier und fuhr mit den Fingern leicht über die Tasten.
»Sie können gerne spielen, wenn Sie möchten.«
»Nicht, solange das Orchester … «, sagte sie und machte eine Handbewegung, die die Musik von der CD einschloss. Sie hatte eine angenehme Stimme, und mit dem englischen Akzent klang sie in Michaels Ohren wie jemand aus der Fernsehserie
Masterpiece Theatre
.
Er schaltete den CD -Player aus, und sie sah ihn an, als sei er ein Zauberer, der plötzlich seinen Zauberstab geschwungen hatte. Dann zog er die Sitzbank für sie hervor.
»Seien Sie mein Gast«, sagte er. Er merkte, dass sie ganz begierig darauf war, zu spielen, obwohl sie versuchte, es nicht zu zeigen. »Wer A sagt, muss auch B sagen.« Es schien, als würde sie den Ausdruck kennen.
Sie lächelte und blinzelte langsam. Fast so, als würde sich die Blende einer altmodischen Kamera öffnen und wieder schließen. Michael blieb wie angewurzelt stehen. Erschien ihr alles, wie Ackerley es ausgedrückt hatte, plötzlich »verwaschen«? Und war das Bild jetzt wieder »klarer«?
Kurz entschlossen strich sie den Rock unter sich glatt und glitt auf die Klavierbank. Ihre schlanken, blassen Finger schwebten über den Tasten, ohne sie jedoch zu berühren. Michael warf einen erneuten Blick zur Tür, dann hörte er die ersten Takte eines alten traditionellen Liedes,
Barbara Allen
. Er erinnerte sich daran aus einer alten Schwarz-Weiß-Verfilmung von
Die drei Weihnachtsgeister.
Er blickte zu Eleanor hinunter, die den Kopf zu den Tasten geneigt und die Augen geschlossen hatte. Ein- oder zweimal verfehlte sie den richtigen Ton, hielt inne und setzte wieder an. Sie schien entzückt. Als ob sie nach sehr langer Zeit endlich an dem Ort angekommen war, von dem sie immer geträumt hatte.
Er stand hinter ihr, ein Auge immer auf die Tür gerichtet, bis er schließlich seinen Wachdienst aufgab und einfach nur der Musik lauschte. Trotz gelegentlicher falscher Noten spielte sie gut, mit viel Gefühl und Ausdruck. Er konnte sich gut vorstellen, wie lange sich all das in ihr angestaut haben musste.
Als das Stück zu Ende war, blieb sie noch eine Weile regungslos und mit geschlossenen Augen sitzen. Als sie ihn schließlich ansah, fiel Michael auf, wie grün
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