Eisiges Blut
Stoff ein Stück in die Höhe gehen.
Michael rollte seinen Schlafsack auseinander. Drei- oder viermal stieß er sich dabei den Kopf an der Decke, ehe er es endlich
geschafft hatte. Er zog die Stiefel aus, behielt allerdings die Wollsocken an, und knüllte seinen Parka, wie Lawson es getan hatte, zu einem Kissen zusammen. Doch das Schwierigste war, sich selbst in den Schlafsack zu manövrieren, da er noch immer so viele Kleiderschichten anhatte. Im beengten Raum der Schneehütte nahm er seinen eigenen Körpergeruch deutlich wahr, und es war nicht gerade ein angenehmer Duft. Stück für Stück rutschte er im Schlafsack nach unten, bis seine Füße an den Boden stießen. Lawson hatte bereits seine Füße in den Tunnel geschoben, aber es war noch genügend Platz, damit Michael seine Beine ebenfalls ausstrecken konnte, ohne dass ihre Füße sich in die Quere kamen. Er legte seinen Kopf auf den zusammengerollten Parka und starrte hinauf zur gewölbten Decke. Er fragte sich, warum das Ding nicht jeden Augenblick zusammenkrachte. Doch nur ein einziger Tropfen Eiswasser hing an der Decke und landete dann mit einem leisen Platsch auf seinem stoppeligen Kinn. In den letzten Tagen hatte er sich immer seltener rasiert, in Erwartung genau solcher Erlebnisse wie diesem hier, bei denen jeder Schutz, und seien es nur ein paar Barthaare, sich als nützlich erwies. Er wischte den Tropfen mit der Rückseite seines Handschuhs fort und zog sich die wasserfeste Lasche übers Gesicht.
»Machst du noch das Licht aus?«, murmelte Lawson.
»Ja«, erwiderte Michael und tastete nach der Taschenlampe, die zwischen ihnen lag. Er fand sie und schaltete sie aus. Die blendende Schneekuppel verschwand und wurde durch eine Schwärze und Stille ersetzt, die so tief war, dass Michael unwillkürlich an ein Grab denken musste.
11 . Kapitel 21 .Juni 1854 , 13 : 15 Uhr
Eleanor Ames arbeitete noch kein Jahr in der Anstalt zur Behandlung leidender Damen in der Harley Street 2 . Somit war es ein Zeichen des Vertrauens, das Miss Nightingale in sie setzte, dass sie bereits zur Nachtschwester ernannt worden war. Obwohl es bedeutete, dass sie bis zur Morgendämmerung wach bleiben musste, fühlte Eleanor sich geehrt und freute sich über die Verantwortung. Und, um ehrlich zu sein, genoss sie die Ruhe der Nachtstunden. Sie musste zwar hin und wieder Medikamente ausgeben oder einen beschmutzten Wickel erneuern, doch davon abgesehen waren ihre Pflichten überwiegend seelischer Natur. Bei manchen Patientinnen, die schon zu den besten Zeiten ruhelos und verzweifelt waren, verstärkte sich dieser Zustand nachts noch. Die Dämonen, die sie verfolgten, schienen herabzusteigen, je weiter die Nacht voranschritt. Eleanors Aufgabe war es, diese Dämonen in Schach zu halten.
Sie hatte bereits nach Miss Baillet gesehen, einer Gouvernante, die ihre Stellung in Belgravia verloren hatte, nachdem sie einen heftigen Anfall erlitten hatte, sowie nach Miss Swann, einer Putzmacherin, die unter einem hohen, aber unerklärlichen Fieber litt. Den Rest der Nacht hatte sie einfach die Krankensäle überwacht und sich vergewissert, dass alles in Ordnung war, sowie die Arzneiausgabe aufgeräumt. Als Vorsteherin des Krankenhauses hatte Miss Nightingale unmissverständlich klargestellt, dass das
Hospital in jeder Hinsicht tadellos sauber und ordentlich zu sein hatte. Sie bestand darauf, dass die Krankensäle regelmäßig, besonders nachts, gelüftet wurden, obgleich man in London kaum von frischer Luft sprechen konnte. Ebenso unnachgiebig verlangte sie, dass alle Betten täglich frisch bezogen, die Wunden mit frischen Leinenverbänden versorgt wurden und zu jeder Mahlzeit sorgfältig zubereitete, nahrhafte Kost serviert wurde. In vielen Kreisen wurden Miss Nightingales Ideen mit Skepsis aufgenommen oder mit einem Achselzucken bedacht. Selbst die Ärzte, die sich um ihre Patientinnen kümmerten, schienen all das für unnötig, aber harmlos zu halten. Eleanor jedoch hatte sich Miss Nightingales Ideale zu eigen gemacht und war stolz darauf, zu den j ungen Frauen zu gehören, die im Spital für eine Ausbildung angenommen waren. Mit ihren neunzehn Jahren war sie beinahe die Jüngste hier.
Sie überprüfte die Arzneiausgabe, besonders die Vorräte an Laudanum, nach dem gewisse Patientinnen gerne verlangten, um besser schlafen zu können. Sie erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Glastür des Schranks. Ihr dunkles Haar, das sie so ordentlich unter die Haube gesteckt hatte, hatte sich
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