Eisiges Blut
den Fall, dass er einen kurzen Artikel über den Fund in einem Wissenschaftsjournal veröffentlichte.
Geschützt durch eine stabile Schicht aus Polareis, hatte der Korken die Zeit überdauert. Darryl hielt den Korkenzieher bereit, den er sich gerade aus der Gemeinschaftsküche ausgeliehen hatte, doch er zögerte, ihn einfach anzusetzen und den Korken herauszuziehen. Er wollte langsam vorgehen, um sicherzustellen, dass der Wein so wenig wie möglich verunreinigt wurde. Zuerst spannte er die Flasche in den Schraubstock am Arbeitstisch ein, den er normalerweise bei widerspenstigen zweischaligen Muscheln benutzte. Nachdem er das Labor und seine Instrumente kurz durchsucht hatte, wählte er ein frisch sterilisiertes Skalpell aus dem Sterilisator und entfernte damit die Reste des roten Siegelwachses am Rand des Flaschenhalses. Wann war das Wachs wohl aufgetragen worden, und von wem? Von einem französischen Pächter aus der Zeit Louis XVI ? Von einem italienischen Weinbauern aus der Zeit des Risorgimento? Oder von einem Spanier, womöglich einem Zeitgenossen von Goya?
Er häufte die Wachsreste auf der Arbeitsfläche auf. Dann schob er das Skalpell zwischen den Korken und den Flaschenhals und arbeitete sich vorsichtig einmal um den Korken herum. Er wollte ihn so weit wie möglich lockern, ehe er den Korkenzieher benutzte. Als er einmal herum war, legte er das Skalpell zur Seite und hielt gerade lange genug inne, um den Triumphmarsch aus
Aida
in den CD -Spieler zu legen. Zu den Klängen der Eröffnungsfanfare setzte er den Korkenzieher an und begann zu drehen. Es
gab einen kurzen Widerstand, doch dann glitt er weich in den Korken. Es ging so leicht, dass Darryl fürchtete, der Korken könnte doch noch zerbröseln. Schließlich war der Korkenzieher ganz verschwunden, und die seitlichen Flügel klappten herunter, als der Korken in einer einzigen Bewegung herauskam. Es gab sogar ein vernehmliches Plopp, als der Korken schließlich ganz herauskam.
Geschafft
, dachte Darryl, als er sich vorbeugte, um den ersten Duft dieses uralten Weines einzuatmen – und auf der Stelle zurückschreckte.
Wenn er sich gefragt hatte, ob der Wein auch nur entfernt genießbar wäre, so hatte er jetzt die Antwort. Der Geruch war ekelhaft. Darryl wartete ein paar Sekunden, bis sich der Gestank verzogen hatte, und hielt dann, von Neugier getrieben, die Nase erneut über die Flasche. Es war nicht nur ein schlechter Geruch. Es war kein Wein, der vor langer Zeit zu Essig geworden war. Es stank nach etwas anderem, das ihm als Biologen verstörend vertraut war. Er zog die Augenbrauen hoch, dann öffnete er eine Schublade, nahm einen sauberen Objektträger heraus und bereitete ihn vor.
»Also Jungs«, sagte Calloway mit seinem selbstgemachten Aussie-Akzent, »ich möchte, das ihr mir gut zuhört und genau das tut, was ich sage.«
Michael steckte, wie Bill Lawson, erneut in dem erstickend engen Tauchanzug und dachte gar nicht daran, zu widersprechen. Er wollte nur so schnell wie möglich ins Wasser.
»Ihr habt zwei Flaschen heute, und das bedeutet, dass ihr höchstens, ich wiederhole: höchstens, neunzig Minuten Zeit habt. Angesichts der Anstrengung, die es kostet, unter Wasser Eis zu sägen, wahrscheinlich ein ganzes Stück weniger. Sobald es irgendwelche Schwierigkeiten beim Sägen gibt, kommt ihr hoch, und zwar sofort! Kapiert?«
Michael und Lawson nickten.
»Das bedeutet, ein Riss im Anzug, so klein er auch sein mag, und ihr kommt sofort zurück. Irgendeine Hautverletzung, irgendetwas, wo ihr Blut verliert, und ihr kommt noch schneller zurück. Wir haben heute Seeleoparden in der Nähe der Tauchhütte gesehen, und ihr wisst, dass das nicht gerade unsere besten Freunde sind.«
Weddellrobben waren neugierig, aber harmlos, doch ihr naher Verwandter, erkennbar an dem großen reptilienartigen Kopf, war es nicht. Eine Weddellrobbe wollte nur mit einem spielen, doch ein Leopard mit seinem gewaltigen gekrümmten Maul wollte zubeißen.
»Wenn es sein muss, verteidigt ihr euch mit den Eissägen.«
Jeder von ihnen war mit einer einen Meter dreißig langen Säge ausgerüstet. Es war nicht unbedingt das präziseste Werkzeug zum Eisschneiden, aber unter Wasser glitt nichts besser durchs Eis als eine Nils-Master-Säge mit ihren rasiermesserscharfen Zähnen.
»Michael, du weißt wo es lang geht. Also gehst du zuerst und schwimmst voran. Bill, du nimmst das Netz und die Bergungsleine und folgst ihm.«
Michael nickte die ganze Zeit, während er sich in
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