Eisiges Blut
sich endlos in die Breite und Tiefe zu erstrecken. Er konnte grob schätzen, in welchem Bereich der Wand er das Gesicht gesehen hatte, aber in welcher Tiefe? Er würde am Gletscher auf und ab schwimmen müssen, und das würde einige Zeit dauern. Mit heftigen Armbewegungen deutete
er auf ein riesiges Gebiet und gab Lawson ein Zeichen, dass er den Gletscher dort absuchen sollte. Michael selbst schwamm dreißig Meter weiter. Um sich zurechtzufinden, drehte er sich zur Orientierungsleine um, die aus dem weit entfernten Sicherungsloch ins Wasser hing und zum besseren Wiederauffinden mit bunten Wimpeln bestückt war. Er versuchte sich zu erinnern, ob er das Loch gestern auch von diesem Winkel aus gesehen hatte, aber er konnte sich absolut nicht mehr erinnern. Er war so entsetzt gewesen, dass er einfach rückwärts gepaddelt war, durch eine Wolke aus Luftblasen und schlagenden Tauchflossen.
Doch er erinnerte sich an die Art des Lichts, und das, so entschied er, war der beste Anhaltspunkt, den er hatte. Das Wetter war heute nicht anders als gestern, und das gleichbleibende Sonnenlicht würde ihm die Richtung weisen, wenn er sich daran erinnern konnte, wie hell oder dämmrig es gewesen war, als er die Leiche entdeckt hatte. Das Wasser und das Licht waren nicht so makellos blau gewesen wie da, wo er jetzt war, also ließ er etwas Luft aus seinem Anzug ab und ließ sich etwa zehn Meter sinken, wobei er sich immer dicht an der Wand hielt. Er ließ den Strahl der Taschenlampe gleichmäßig über die grobe marmorierte Oberfläche gleiten, immer vor und zurück, während er nach irgendetwas Ausschau hielt, einem Felsspalt oder einer ungewöhnlichen Formation, das seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen könnte. Doch bisher hatte er nichts wiedererkannt.
Was ihm jedoch auffiel, war die schleichend zunehmende Kälte. Das Wasser war hier kälter als noch wenige Meter weiter oben. Es war, als spürte er den eisigen Atem des Gletschers, bis er mit dem Handschuh die Maske abwischen musste. Er fragte sich, was es für ein Gefühl sein musste, für Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ein Gefangener des Eises zu sein. Für immer verschluckt und regungslos gefesselt, wie eine von Darryls Proben, die in den Gläsern mit Formaldehyd schwebten. Leblos, aber makellos konserviert. Tot, aber nicht vergangen.
Dann dachte er an Kristin, die absolut reglos in ihrem Krankenhausbett in Tacoma lag.
Er stocherte mit der Spitze der Säge im Eis herum, und sofort lösten sich ein paar dünne Scheiben wie die Schale einer Kartoffel. Ein weiterer Tropfen Eiswasser drang in seinen Handschuh ein.
Er sank immer noch tiefer, und das Licht wurde schwächer, bis es mehr dem Licht ähnelte, an das er sich erinnerte. In einer breiten Schneise schwamm er von einer Seite zur anderen und arbeitete sich langsam nach unten vor, bis ihm irgendetwas an dem Eis anders vorkam, eine Stelle, die im Strahl der Taschenlampe nicht ganz so makellos weiß erschien. Er hielt direkt darauf zu.
Je näher er kam, desto dunkler und kälter wurde das Wasser, und sein Herz pochte schneller. Langsam wedelte er mit den Armen und Flossen, um seine Position zu halten, und untersuchte die Wand. Tatsächlich war etwas darin verborgen. Es hatte Augenblicke gegeben, in denen er sich selbst gefragt hatte, ob er sich das alles nicht eingebildet hatte, auch wenn er das niemandem gegenüber zugegeben hätte. Rasch winkte er Lawson mit der Taschenlampe zu, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Lawson befand sich ein ganzes Stück über ihm, und Michael schwamm näher an den Gletscher heran. Er spähte in das Eis und sah ihr Gesicht, das ihn anzustarren schien.
Es war so, wie er es in Erinnerung hatte, und zugleich war es anders. Gestern hatte er ein Gesicht gesehen, das voller Entsetzen gewesen war, die Augen weit aufgerissen und der Mund wie zu einem Schrei geöffnet, aber jetzt sah sie anders aus. Obwohl es unmöglich war und er wusste, dass er nie versuchen würde, es Murphy O'Connor zu erklären, waren ihre Augen jetzt entspannt und der Mund nur leicht geöffnet. Sie sah nicht aus wie jemand in höchster Not, sondern wie mitten in einem leicht beunruhigenden Traum, aus dem sie gleich erwachen würde.
Lawson schwamm auf ihn zu, die Bergungsleine hinter sich
herziehend. Als er das Gesicht im Eis entdeckte, verharrte er still im Wasser und ließ das Bild auf sich wirken. Michael wusste, dass Lawson insgeheim die ganze Zeit an der Geschichte gezweifelt hatte. Er wollte Michaels Worten Glauben
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