Eisiges Blut
schenken, aber er wusste nur zu gut, welche Streiche einem der Verstand beim Tiefseetauchen spielen konnte. Aber das hier war kein Trick, und jetzt wusste er es.
Wenn sie die Frau aus dem Eis befreien wollten, mussten sie sich rasch an die Arbeit machen. Eine mehrere Zentimeter dicke Eisschicht bedeckte sie und das, was sich hinter ihr befand. Was immer es auch sein mochte.
Lawson setzte seine Säge am Eis an und gab Michael zu verstehen, dass er hier seitlich sägen wollte. Dann hielt er die Spitze von Michaels Säge ein paar Zentimeter über den Kopf der Frau und deutete eine horizontale Linie an. Sie planten, so viel Spielraum wie nötig und so wenig wie möglich zu lassen. Ein Eisblock mit einer eingeschlossenen Leiche würde ohnehin schon gut eine Tonne wiegen.
Michael steckte die Lampe zurück an den Gürtel und stieß das gezackte Sägeblatt ins Eis. Wie einen Violinbogen zog er die Säge wieder zu sich, und ein schmaler Spalt öffnete sich. Er stieß die Säge erneut hinein, und der Spalt wurde tiefer, während durchsichtige Eissplitter davonschwebten. Es würde eine ganze Weile dauern, aber immerhin hatten sie das richtige Werkzeug für diese Arbeit. Der schwierigste Teil bestand für Michael darin, seinen Körper und besonders die Tauchflossen außerhalb der Reichweite von Lawsons Säge zu halten, der unter ihm arbeitete.
Ebenso wichtig war es, den Blick immer auf den tiefer werdenden Spalt zu richten und ihn nicht zu dem Gesicht im Eis abschweifen zu lassen. Sobald er sie ansah, schien sein Blut zu gefrieren. Die eiserne Kette, die um ihren Hals geschlungen war, war der Stoff, aus dem Alpträume waren. Er versuchte, regelmäßig zu atmen und solche Gedanken zu verdrängen. Er hörte das Zischen
des Reglers und das gelegentliche Ächzen und Stöhnen des Eises. Menschen neigten dazu, allen möglichen Dingen menschliche Züge zuzuschreiben, und jetzt kam es Michael so vor, als würde der Gletscher unter Schmerzen leiden. Spürte er, wie die Sägen in ihn eindrangen? Kämpfte er womöglich darum, seine gefrorene Beute nicht hergeben zu müssen?
Aber er konnte nicht gewinnen. Michael kam stetig voran, und als er das Gefühl hatte, der Spalt sei tief und breit genug, drehte er die Säge, um vertikal weiterzusägen. Allmählich schnitten Bill und er ein Rechteck um die Frau und die andere Gestalt, die sich hinter ihr versteckte. War es ebenfalls ein Mensch, oder etwas völlig anderes? Michael sah, wie Lawson seine Taucheruhr überprüfte. Anschließend hielt er die Hand hoch und streckte zwei Mal hintereinander die dicken Finger, was bedeutete, dass sie noch etwa zehn Minuten Zeit hatten, um so viel wie möglich aus dem Eis herauszuschneiden. Den Rest würde die Winde erledigen müssen.
Lawson holte einen messerscharfen Haken aus seiner Gürteltasche und trieb ihn weit in den freigelegten Eisblock hinein. Dann wiederholte er das Ganze mit weiteren Haken. Der einfache Plan sah vor, dass sie den Eisblock so weit wie möglich lockerten, damit ein plötzlicher kräftiger Ruck ausreichte, um ihn in einem Stück herauszureißen. Als Lawson alle Haken verankert hatte, breitete er das Netz aus, schlang es so gut es ging um den freigelegten Eisblock und sicherte es mit weiteren Haken. Diese kamen eigentlich eher im alpinen Bereich zum Einsatz, Michael hatte sie schon oft beim Klettern verwendet. Als Lawson damit fertig war und alle Haken mit der reißfesten Bergungsleine verbunden waren, riss er dreimal kräftig an der Leine, wartete, und riss noch drei Mal daran.
Sie paddelten ein paar Meter zurück und warteten darauf, dass die Winde ihre Arbeit aufnahm. Als Erstes sahen sie, dass die Bergungsleine, die bisher locker durchgehangen hatte, sich
plötzlich wie die Sehne eines Bogens spannte. Michael vernahm ein Summen wie von einer Hochspannungsleitung, und eine Sekunde später sah er, wie der Eisblock sich bewegte. Stück für Stück ruckelte er vor, dann stoppte er, und Michael hörte das Eis knacken und knistern. Es war, als würde ein gigantischer Felsblock aus einer Pyramide gleiten. Plötzlich hatte er eine Schreckensvision, dass die ganze Eiswand über ihnen zusammenbrach. Er schwamm weiter zurück und blies seinen Anzug auf, um ein paar Meter höher zu steigen.
Offenbar hatte die Winde erneut angezogen, denn der Eisblock rutschte an einer Seite weiter nach vorn, dann an der anderen. Fast wie ein Pinguin, der über den Schnee watschelte. Er kam erneut zum Stillstand und schien sich in seiner gefrorenen
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