Eisiges Blut
den Tauchflossen immer weiter an das verlockende Eisloch heranschob. Ein kühler Lufthauch stieg von dort auf und wehte in die überhitzte Hütte. Er stellte fest, dass man den Einstieg erweitert hatte.
»Das war’s, Leute«, sagte Calloway und klopfte Michael auf die Schulter, um ihm zu bedeuten, dass es Zeit war zu gehen. »Masken auf und hinein ins Vergnügen.«
Kurz darauf setzte Michael sich an den Rand des Loches und ließ sich durch den Eistunnel in das kalte Wasser gleiten. Nach der versunkenen Truhe brauchte er nicht mehr zu suchen, ein anderes Tauchteam war bereits vor ihnen unten gewesen und hatte sie geborgen. Er hatte beobachtet, wie die Huskys den Schlitten mit dem Fund zurück zur Station zogen. Ein großer Kerl namens
Danzig hatte die Hunde angefeuert, und als er an Michael vorbeigekommen war, hatte er die Hand zum Gruß erhoben. Es hatte sich rasch auf der Station herumgesprochen, dass Michael eine ziemlich ungewöhnliche Entdeckung gemacht hatte, und selbst, wenn es keine Eisprinzessin gäbe, so war sein Ansehen doch eindeutig gestiegen. Aber Michael wusste, dass es sie gab.
Nachdem er sich unter Wasser orientiert und auf Lawson gewartet hatte, wandte sich Michael von dem Tauch- und dem Sicherheitsloch ab und schwamm auf die Gletscherwand zu, die er in der Ferne erspäht hatte. Zu seinem großen Bedauern hatte er keine Kamera dabei, Murphy hatte es ihm verboten. »Ich will nicht, dass du deine Zeit da unten mit Fotografieren vertrödelst«, hatte er gesagt. »Du hast nur begrenzt Zeit, und wenn du recht hast mit dem, was du gesehen hast« – er war immer noch nicht bereit, in diesem Punkt nachzugeben –, »wirst du alle Hände voll zu tun haben, um Bill dabei zu helfen, das Ding aus dem Eis zu kriegen.«
Mit der Säge in der einen und der Taschenlampe in der anderen Hand schwamm er wie eine Robbe durch das Wasser, indem er wellenförmige Bewegungen mit dem Körper machte und kräftig mit den Taucherflossen arbeitete. Allein den Gletscher zu erreichen war anstrengender und zeitraubender als erwartet. Unter Wasser ließen sich Entfernungen nur schwer abschätzen, zumal die Eiskappe einen Schleier über alles warf. Hin und wieder drangen ein paar Sonnenstrahlen durch Risse im Eis in die Tiefe und zielten wie goldene Speere auf die dunklen Bodenregionen unter ihnen. Andererseits war das Wasser von einem hellen, klaren Blau, wie der Himmel an einem frühen Sommermorgen.
Sein Handschuh war undicht. Nicht sehr, aber genügend, dass es bereits unangenehm wurde. Der Handschuh war das einzige Ausrüstungsteil, das nicht fest mit dem Anzug verbunden war, und so drang immer etwas Wasser ein, egal, wie gut man den Übergang abdichtete. Die Stoffschichten darunter sogen das
Wasser auf, bis es irgendwann auf Körpertemperatur erwärmt war, doch bis dahin erinnerte die betäubende Kälte daran, in welch lebensfeindlichem Klima er unterwegs war.
Er verlangsamte sein Tempo und drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass Lawson, der stets freundliche Pfadfinder, noch hinter ihm war. Seine Gesichtsmaske funkelte im Wasser, und er erkannte die scharfe Spitze der Eissäge sowie die Bergungsleine, die er hinter sich herzog. Sie war an seinem Gurt befestigt und führte nach oben zu einer 200 PS starken Winde hinter der Tauchhütte. Das Seil, das gewöhnlich dazu benutzt wurde, um Ölfässer und versunkene Wrackteile zu bergen, war neunhundert Meter lang und mit bis zu mehreren Tausend Kilogramm belastbar. Michael wandte den Blick wieder nach vorn und hielt auf den Gletscher zu. Als dieser drohend über ihm aufragte und unter ihm in der Tiefe verschwand, zögerte er kurz und verspürte sogar ein wenig Furcht, die er beim ersten Mal nicht empfunden hatte. Doch da hatte er auch noch nicht gewusst, was das Eis enthielt. Jetzt wusste er es nicht nur, sondern war gekommen, um es ihm zu stehlen. Die Gletscherwand wirkte abweisender als gestern und glich den Mauern einer Festung, errichtet von einem uralten Gott des Meeres und des Eises. Michael kam sich vor wie ein Soldat, der vorhatte, sie zum Einsturz zu bringen.
Das Eis gab sogar leise Geräusche von sich. Michael hörte ein Knacken und Knirschen, das ihm gestern gar nicht aufgefallen war. Der gewaltige Gletscher bewegte sich, er bewegte sich ständig, wenn auch so langsam, dass man es nicht sehen und nur selten hören konnte. Michael schwamm dichter an die Wand heran und wusste, dass jetzt der schwierige Teil begann. Die Wand war unermesslich groß und schien
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