Eisiges Herz
nichts, was eine Anklage wegen Mordes begründen würde.«
»Bitte sagen Sie mir nicht, dass die Staatsanwaltschaft nichts unternehmen wird. Wollen Sie wirklich tatenlos zusehen, wie dieser Mann seine Patienten in den Selbstmord treibt? Es geht um Menschenleben.«
»Na ja«, sagte Pierce leise, »wenn Sie Bell wirklich drankriegen wollen, könnten Sie die Fälle vor die Ärztekammer bringen. Die werden garantiert ein ernstes Wort mit Dr. Bell reden.«
45
D as kleine, glänzende Messingrad drehte sich, und die winzige Maschine machte Geräusche wie eine Miniaturlokomotive. Mit Hilfe eines Nagelklippers hatte Frederick Bell den Docht des winzigen Brenners unter dem Dampfkessel beschnitten, dann hatte er ihn mit Brennspiritus gefüllt. Der zylindrische Dampfkessel war so klein, dass er nicht einmal eine Tasse Wasser aufnehmen konnte. Alle Messingteile glänzten im Licht, das durchs Fenster fiel, und das Schwungrad drehte sich. Die kleine Dampfmaschine war das einzige Andenken an seinen Vater – oder zumindest das einzige, das er offen sichtbar auf seinem Schreibtisch stehen hatte. Und hin und wieder, wenn er in einer grüblerischen Stimmung war, setzte er sie in Gang.
Im Moment grübelte er über Melanie Greene nach. Bell war beinahe davon überzeugt, dass er die junge Frau zum Äußersten getrieben hatte. Nichts führte im späteren Leben eines Menschen mit solcher Sicherheit zu Selbstverachtung und Depressionen wie sexueller Missbrauch in der Kindheit. Dass er Melanie dazu gebracht hatte, über ihre Qualen zu sprechen und sich ihre widersprüchlichen Gefühle für ihren Stiefvater einzugestehen, das war solides therapeutisches Handwerk. Aber seine Glanzleistung war es gewesen, den richtigen Moment abzupassen, in dem er sie zurückwies. Er hatte das Vertrauen in ihren grünen Augen gesehen, die Sehnsucht, angenommen und geliebt zu werden. Mittlerweile musste sie so verzweifelt sein, dass sie nicht mehr versuchen würde, Hilfe zu finden, da war er sich ziemlich sicher. Heute hatte sie zum ersten Mal seit ihrer letzten Sitzung nicht angerufen.
Aber dass er sich nicht hundertprozentig sicher sein konnte, machte ihn nervös. Er konnte einen Sieg erst auskosten, wenn er zweifelsfrei feststand.
Normalerweise beruhigte es ihn, wenn er mit der kleinen Dampfmaschine spielte. Sie rief seine schönsten Kindheitserinnerungen wach, die wunderbaren Stunden, als sein Vater ihm seine geliebte Welt der Wissenschaften erklärt hatte. Die Dampfmaschine bot willkommenes Anschauungsmaterial, um über das Boyle-Mariottesche Gesetz zu sprechen, über Kraftübertragung und die Geschichte der Dampfkraft im Allgemeinen. In jenen Stunden war dem Jungen sein Vater wie ein zweiter Alexander Graham Bell vorgekommen – er hatte sogar das gleiche schwarze Haar und den schwarzen Vollbart.
Manchmal, wenn Bell mit der Dampfmaschine spielte, hielt er selbst nichts mehr von seiner zerstörerischen Art der Therapie. Dann nahm er sich jedes Mal fest vor, seinen Patienten zu helfen, ihre Depressionen zu überwinden, so wie er es zu Anfang seiner beruflichen Laufbahn getan hatte, die Menschen vom Abgrund fortzuführen, anstatt sie hineinzustoßen. Aber nach zwei oder drei Sitzungen, manchmal schon nach einer einzigen, waren alle guten Vorsätze wieder vergessen.
»Ich hasse sie«, murmelte er. Er drückte auf einen winzigen Messinghebel und entlockte der Maschine ein fröhliches Pfeifen. »Ich hasse sie alle.«
Er hielt den Hebel gedrückt, bis das Pfeifen verstummte und nur noch ein leises Zischen zu hören war. Diesmal übte die Maschine keine beruhigende Wirkung auf ihn aus, und für gute Vorsätze war er erst recht nicht aufgelegt. Er blies die kleine blaue Flamme aus und stellte die Maschine ins Bücherregal neben das Bild von seiner Mutter, ein Foto, auf dem sie in einem taillierten Kleid lächelnd im Garten stand, die Haareimmer noch im Stil der vierziger Jahre auf einer Seite hochgesteckt. Das Foto war von einer Tante aufgenommen worden, etwa eine Woche bevor seine Mutter die Schlaftabletten geschluckt und ihren achtzehnjährigen Sohn sich selbst überlassen hatte.
Nein, selbst Tagträume von alten Zeiten konnten ihn heute nicht beruhigen, nicht, solange er nicht wusste, ob es ihm gelungen war, die Welt von einem weiteren nutzlosen Jammerlappen zu befreien. Es war eine wichtige Arbeit, eine Art Reinigungsservice, aber Befriedigung brachte ihm diese Arbeit nur ein, wenn er die Leute dazu bringen konnte, den letzten Schritt selbst zu
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