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Eisiges Herz

Eisiges Herz

Titel: Eisiges Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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als stünde man neben dem Empire State Building; er war einsneunzig groß, und in seiner Gegenwart kam Delorme sich regelrecht mickrig vor. Um das Gefühl zu kompensieren, ging sie meist ziemlich ruppig mit ihm um, was völlig unnötig war, denn Szelagy war der umgänglichste ihrer Kollegen.
    Sie hielten sich abseits, damit der Gerichtsmediziner seine Arbeit tun konnte. Es war wieder Dr. Claybourne, dessen spärlich behaarter Schädel im Neonlicht glänzte.
    Delorme durchsuchte die Brieftasche des Toten. Mit Latexhandschuhen war es gar nicht so einfach, die Karten und Papiere aus den Fächern zu ziehen, aber schließlich brachte sie einen Führerschein zum Vorschein, allerdings hatte das ein wenig schiefe Gesicht auf dem Foto keinerlei Ähnlichkeit mit der blutigen Masse auf dem Boden.
    »Perry Wallace Dorn«, las sie vor, »wohnhaft Woodruff Avenue, falls die Adresse noch stimmt.«
    »Nicht grade hier in der Nähe«, bemerkte Szelagy. »Man sollte meinen, er hätte sich wenigstens den Waschsalon um die Ecke aussuchen können. Vielleicht hat eine von den Maschinen seine Münzen gefressen.«
    Delorme überflog mehrere Kreditkarten, einen Bibliotheksausweis, Krankenversicherungskarte, eine Kundenkarte von einem Buchladen, einen abgelaufenen Studentenausweis von der Northern University.
    »Aha«, sagte sie. »Eine Geburtsurkunde.«
    Sie drehte das Dokument um. Leider handelte es sich um die Kurzfassung, auf der die Namen der Eltern nicht angegeben waren. Sie reichte Szelagy die Karte. »Rufen Sie beim Zentralregister an und besorgen Sie die Namen der Eltern. Und finden Sie raus, ob Perry verheiratet war.«
    Szelagy klappte sein Handy auf, während Delorme ein Blatt Papier entgegennahm, das Dr. Claybourne ihr reichte.
    »Das war in seiner Jackentasche«, sagte Claybourne. Sein Gesicht war puterrot. Das hatte mit seinem Teint zu tun, sagte sich Delorme, egal, was McLeod behauptete. McLeod lag so oft mit seinen Vermutungen daneben, dass man sich fragen konnte, wie er es je zum Detective gebracht hatte.
    Der Zettel war irgendwann zerknüllt, dann wieder geglättet und säuberlich gefaltet worden. Jedenfalls würde er nicht als einer der romantischsten Liebesbriefe in die Geschichte eingehen.
    Liebe Margaret
, stand da. Dann waren die Worte durchgestrichen und mehrmals an verschiedenen Stellen auf der Seite noch einmal geschrieben worden.
Liebe Margaret, Liebe Margaret, Liebe …
Null Punkte für Eloquenz, Perry. Dann überlegte Delorme. Vielleicht war das alles, was zu sagen blieb, wenn man vorhatte, von der Bühne abzutreten. Danke, mir reicht’s. Ihr könnt ohne mich weitermachen. Vielleicht hatte Perry den Abschiedsbrief auf das Wesentliche kondensiert:
Liebe …
    Man sollte meinen, nur Versager würden sich umbringen, dachte Delorme, verkrachte Existenzen und Menschen ohne eine Spur von Zukunftsaussichten. Aber sie hatte mittlerweile genug gesehen, um zu wissen, dass Selbstmord ein Ausgang war, für den absolute Gleichberechtigung galt: Klug oder dumm, schön oder hässlich, jeder konnte jederzeit durch diese Tür gehen. Aber warum ausgerechnet jetzt? Warum im Oktober? Delorme wusste genug über Suizid, und eines stand fest: Dass die Selbstmordrate um Weihnachten steil anstieg, war ein Mythos. Es gab zu Weihnachten keinen größeren Andrang an diesem speziellen Ausgang, jedenfalls nicht in Ontario. Die höchsten Zahlen wurden im Februar verzeichnet. Was nachvollziehbar war, denn im Februar hatte man den Schnee und die Kälte so satt, dass Selbstmord einem tatsächlich wie eine vernünftige Alternative erscheinen konnte. Deswegen zog im Februar beinahe die gesamte Bevölkerung von Algonquin Bay entweder nach Florida oder in die Karibik um.
    Aber warum nahm sich jemand im Oktober das Leben? Es war alles so schön, die Hügel boten sich in einer atemberaubenden Farbenpracht dar. Im Herbst war Delorme so glücklich wie sonst nie. Sie traf ihre guten Vorsätze immer im Herbst, nie zu Silvester. Vielleicht war es auch nur ein Vermächtnis des Schulsystems: Im Herbst kaufte man neue,bunte Schulhefte, deren frische, weiße Seiten einen einluden, sie mit ordentlichen Hausaufgaben zu füllen. Im weiteren Verlauf des Schuljahres dann verschlechterten sich die Noten zu undeutlichen Flecken in der Erinnerung. Aber in den ersten Herbsttagen, wenn die Vorahnung auf den Winter in der Luft lag und der Himmel tiefblau erstrahlte, konnte man – oder zumindest Delorme – einfach nur glücklich sein. Natürlich hatte auch der Sommer eine

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