Eisiges Herz
wäretot, und jetzt sind wir alle drei hier und unterhalten uns ganz normal.« Er legt eine Hand auf sein Herz, spürt, wie die Wärme durch seinen Körper pulsiert.
Catherine mustert ihn mit ihren ernsten braunen Augen, an ihren Mundwinkeln bilden sich kleine Fältchen. »Du hast geträumt, ich wäre tot?«
»Und es war so realistisch! Es war grauenhaft!«
»Du Ärmster«, sagt Catherine. Ihre süße, sorgenvolle Stimme. Sie legt ihm eine Hand an die Wange, und er spürt die Wärme des Bluts, das durch ihre Adern fließt. »Geht es dir wieder gut?«
»Ob es mir gut geht?« Cardinal lacht. »Es geht mir so gut, dass ich vor Glück platzen könnte. Es geht mir so gut, dass ich …« Ihm versagt die Stimme, und er kann nicht mehr sprechen, weil er weinen muss. Er vergießt tatsächlich Freudentränen, so dass seine Frau und seine Tochter vor seinen Augen verschwimmen wie Computeranimationen.
Die Tränen auf seinen Wangen rissen Cardinal aus dem Schlaf. Er lag auf dem Rücken, und die Tränen bildeten Pfützen in seinen Augenhöhlen. Seine Nase lief, seine Oberlippe war schleimverschmiert, kalte Tränen klebten ihm an den Ohren und am Hals. Wie glücklich er war! Er wischte sich die Augen und stützte sich auf dem Ellbogen auf, um Catherine davon zu erzählen.
Seit dem Traum lagen Cardinals Nerven blank. Jede Bewegung, die er machte, wurde zehnfach verstärkt. Wenn er auch nur eine Tasse auf der Küchenanrichte abstellte, ertönte ein
Klack
, das ihm in den Ohren schmerzte. Das Wasser, das in die Spüle lief, fühlte sich unangenehm und widerlich an, Besteck in die Schublade zu räumen war eine Tortur. Selbst die Zeitung machte beim Umblättern der Seiten ein Geräusch, das ihm scharf und zischend in die Ohren stach. Und erkonnte nichts lesen, nichts aufnehmen. Selbst die Schlagzeilen waren verschwommen.
Und Catherine war überall. Alles im Haus war ein Teil von Catherine. Vor allem die Gegenstände, die sie angeschafft hatte. Sie hatte sich mit diesen Dingen beschäftigt, war losgefahren, um sie zu kaufen, hatte sich Gedanken darüber gemacht. Und alles, was sie täglich benutzt hatte: die Medikamente im Medizinschränkchen, ihre Reinigungs- und Feuchtigkeitscremes im Bad. Ihre Haarbürste, in der noch ihre Haare hingen. Bewahrt man so etwas auf? Wie kannst du es wegwerfen?, rief eine innere Stimme. Was ist, wenn sie zurückkommt?
In einer Vase standen verwelkte Tulpen, die sie mitgebracht hatte – wann war das gewesen, vor zwei Wochen?
Cardinal brachte es nicht fertig, sie in den Mülleimer zu werfen, und Kelly offenbar ebenso wenig. Dann waren da noch die Fotos, die Catherine so gut gefallen hatten, dass sie sie hatte rahmen lassen: ein Porträt von Kelly, ein Bild von ihm und Catherine, mit Selbstauslöser aufgenommen. Das Regal war vollgestopft mit CDs, die sie ausgesucht hatte:
Die Goldberg-Variationen
,
Das Wohltemperierte Klavier
, ein mal von Gould und einmal von Landowska. Bonnie Raitt, Sheryl Crow. Werde ich mir die Musik je wieder anhören können? Soll ich die CDs wegwerfen? Was ist, wenn sie zurückkommt?
In der leeren Küche machte Cardinal sich eine Schüssel Cornflakes mit Milch. Er aß nie Cornflakes, doch er hoffte, sie würden so wenig Geschmack haben, dass er sie problemlos herunterbekam. Während er auf die Cornflakes starrte, die in der Milch schwammen, klingelte das Telefon.
Cardinal stand auf und meldete sich. Am anderen Ende der Leitung war eine Frau, deren Stimme er nicht kannte.
»Hallo, ist Catherine da?«
Cardinal stand an der Spüle, umklammerte das Telefon, unfähig, sich zu rühren.
»Hallo? Bin ich dort richtig bei Catherine Cardinal?«
»Ja«, brachte Cardinal heraus. »Ja.«
»Kann ich bitte mit ihr sprechen?«
»Äh, nein. Sie, äh – sie ist nicht hier.«
»Wissen Sie, wann sie zurückkommt?«
»Nein. Ich meine, ich bin mir nicht sicher.«
»Oh. Könnten Sie sie bitten, mich zurückzurufen, wenn sie kommt? Ich gebe Ihnen meinen Namen und meine Nummer. Haben Sie was zum Schreiben?«
Cardinal nahm einen Stift und hörte zu, als die Frau ihm ihren Namen und ihre Telefonnummer nannte. Catherine möge sie wegen eines Wochenendworkshops über digitale Fotografie zurückrufen. Cardinal hielt den Stift über den Notizblock, den Catherine benutzt hatte, um telefonische Nachrichten zu notieren, doch er schrieb nichts auf.
Er flüchtete ins Büro. Catherine war höchstens vier, fünf Mal auf dem Revier gewesen. Bis auf ihr Foto auf Cardinals Schreibtisch gab es
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