Eisiges Herz
dort nichts, was ihn an sie erinnerte. Es war ein Männerort, trotz der Anwesenheit von Lise Delorme und Sergeant Flower und von Frances und den anderen weiblichen Hilfskräften. Das Revier war ein Männerort; hier konnte Catherine ihn nicht in Anspruch nehmen.
»Da sind Sie ja wieder«, sagte McLeod. »Dabei fing es gerade an, hier ein bisschen zivilisiert zuzugehen.«
»Ich bin nicht hier«, erwiderte Cardinal. »Ich bin nur gekommen, um ein bisschen aufzuräumen.«
»Ach wirklich«, sagte McLeod. »Ich bin nur hergekommen, um ein bisschen Schlaf nachzuholen.«
Cardinal nahm seinen Schreibtischkalender und schlug ihn bei Januar auf. Der Fall Renaud: zwei Brüder, die eine Einbruchseriebegangen hatten. Als sie wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten wurden, hatte es in ihrem Lieferwagen ausgesehen wie in einem Pfandhaus. Die ganze Sache wäre glimpflicher ausgegangen, wenn einer ihrer Einbrüche nicht vollkommen schiefgelaufen wäre. In einem der Häuser, in das sie eingestiegen waren, hatte der Eigentümer die Brüder überrascht, woraufhin sie ihn in Panik halb totgeschlagen hatten. Cardinal hatte beide wochenlang verhört, bis es ihm schließlich gelungen war, sie gegeneinander auszuspielen. Sie waren zu sechs Jahren Haft verurteilt worden und saßen jetzt in Kingston ein.
»Was machst du denn hier?«, fragte Delorme. Sie kam direkt auf ihn zu und umarmte ihn, und Cardinal, vor Trauer übersensibel, hatte sofort einen Kloß im Hals. Delorme warf einen prüfenden Blick auf seinen Schreibtisch und den aufgeschlagenen Kalender. »Aha!«, sagte sie. »Übeltäter, die dich gekannt und geliebt haben. Wenn ich mal raten darf: Du versuchst herauszufinden, wer dir diese Karte geschickt hat.«
»Karten«, sagte er. »Ich hab noch eine bekommen.«
Delorme schaute ihn an. »Derselbe Poststempel?«
»Die zweite wurde in Sturgeon aufgegeben.«
Sturgeon Falls lag etwa eine halbe Stunde westlich von Algonquin Bay entfernt. Es dauerte nur eine Sekunde, bis Delorme Cardinals eigene Überlegungen wiedergab: »Mattawa. Sturgeon. Angenommen, die Karten stammen von ein und demselben Absender, dann würde ich sagen, dass er wahrscheinlich hier wohnt. Es ist, als versuchte er, seine Handschrift zu verbergen.«
»Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er beide Male denselben Drucker benutzt hat.«
Delormes Schreibtisch stand gleich neben Cardinals. Sie setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl und drehte sich zu ihm hin. »Zeigst du mir die Karte?«
»Bisher hast du dich nicht dafür interessiert.«
»Ach, John. Dreh mir nicht das Wort im Mund um.«
Er zog die Karte, die immer noch in der Klarsichthülle steckte, aus seiner Aktentasche.
Wie sehr sie dich gehasst haben muss. Du hast sie total im Stich gelassen.
»Was für ein Dreckskerl«, sagte Delorme. »Wenn es ein Mann ist. Aber Frauen können auch ganz schön gemein sein, wie dir nicht entgangen sein wird. Glaubst du, dass die Renaud-Brüder dahinterstecken? Wenn die das waren, dann fahre ich nach Kingston und trete ihnen höchstpersönlich in den Arsch.«
»Ich glaube nicht, dass sie es waren. Erstens, woher hätten sie wissen sollen, dass Catherine …«
»In einem Gefängnis sprechen sich Neuigkeiten schnell herum, das weißt du. Und sie haben immer noch Verwandte in der Stadt. Jemand könnte es erwähnt haben.«
»Und dann? Sie lassen von jemandem eine Karte in Mattawa einwerfen und von einem anderen eine in Sturgeon Falls, aber drucken beide Texte auf demselben Drucker aus? Scheint mir ziemlich weit hergeholt.«
»Tja, du weißt besser als ich, welche Fälle du im letzten Jahr bearbeitet hast.«
Delormes Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und begann sich leise mit Burke über den jungen Mann zu unterhalten, der sich in dem Waschsalon erschossen hatte.
Cardinal hatte auf dem Weg zum Revier im Autoradio die Nachrichten gehört. Es war der wichtigste Fall auf Delormes Kalender für diese Woche, aber sie hatte ihm gegenüber nichts davon erwähnt; offenbar wollte sie ihn nicht mit Gesprächen über Selbstmord belasten. Cardinal wusste nicht recht, ob es ihm gefiel, mit Samthandschuhen angefasst zu werden.
Er blätterte weiter in seinem Kalender. Alle paar Minuten kam jemand vorbei und sagte etwas wie: »Cardinal! Schön, dass Sie wieder da sind!«, und er antwortete jedes Mal: »Ich bin gar nicht da.«
Er ging seine Schublade mit den Hängeakten durch, einen Reiter nach dem anderen. So viele Namen, so viele Schurken und Verbrecher, und dennoch
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