Eisiges Herz
ist es schon immer gewesen.«
Selbst in Cardinals eigenen Ohren klang sein Vortrag wie der Schrei eines verwundeten Tiers. Und zu allem Überfluss musste er auch noch den mitfühlenden Blick in Wes Beatties bärtigem Gesicht ertragen. Beattie legte ihm tatsächlich eine Hand auf die Schulter.
»John, was machen Sie überhaupt hier? Sie dürften noch gar nicht wieder im Dienst sein.«
»Wieso nehmen Sie diesen Typen in Schutz, Wes? Er hat doch schon Scofield auf seiner Seite. Halten Sie es für unmöglich, dass er diese Karten geschrieben hat?«
»Nein, denn man sieht ja den Druckerfehler auf den Karten und auf der Rechnung. Ich weiß, dass Felt die Rechnungen für Desmonds Bestattungsinstitut erstellt. Und ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass er so was Perverses schreiben würde. Der Mann hat schräge Neigungen, keine Frage. Aber ich bin noch selten jemandem begegnet, der so wenig zu Gewalttätigkeit fähig ist, und dass er jemandem etwas zuleide tun könnte, ist absolut undenkbar. Sie haben noch nicht mal einen Beweis für einen Mord. Nehmen Sie sich Urlaub. Gehen Sie zu einem Trauerberater. Lassen Sie sich nicht aus der Bahn werfen.«
»Selbst wenn wir annehmen, dass Felt niemandem ein Haar krümmen könnte, haben wir einen Mann, der gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hat, der einen Polizisten mit perversen Briefen schikaniert und bedroht. Das reicht doch wohl, um ihn wieder in den Knast zu stecken.«
»Okay, die Karten sind primitiv. Sie sind verletzend. Sie sind boshaft. Fällt das unter ›Schikane‹? Ich weiß nicht. Darüber ließe sich diskutieren. Aber die Briefe als ›Bedrohung‹ zu bezeichnen ist reichlich übertrieben. Sie werden keinen Richter finden, der das unterschreibt. Sagen Sie mir eines,John: Wenn Sie akzeptieren würden, dass der Befund ›Selbstmord‹ korrekt ist, würden Sie sich dann überhaupt die Mühe machen, nach dem Absender dieser Karten zu suchen?«
Die Tür wurde aufgerissen, und im nächsten Augenblick stand Leonard Scofield vor ihnen, eine lederne Aktentasche in der einen und einen Briefbogen in der anderen Hand. Scofields Anzüge sahen immer aus, als käme er gerade von einem Maßschneider in der Savile Row, und seine Schuhe, als wären sie nagelneu. Es war zwar schon halb elf abends, dennoch erschien er in einem dunklen Nadelstreifenanzug, einem blütenweißen Hemd und mit dunkelroter Krawatte.
Scofield hatte eine sonore Stimme, die ihm die Autorität eines Nachrichtensprechers verlieh und noch das schwächste seiner Argumente vernünftig klingen ließ. Cardinal hatte es geschafft, zwei oder drei seiner Mandanten hinter Gitter zu bringen, aber nie für so lange, wie sie es verdient hätten.
Und als wäre das alles noch nicht genug, war Scofield auch noch ein anständiger Mensch. Wie die meisten Polizisten war Cardinal Anwälten gegenüber instinktiv misstrauisch, auch wenn er intelligent genug war, um zu wissen, dass sich dieses Misstrauen nicht begründen ließ. Aber Scofield war ein Mann, den man einfach respektieren musste, selbst wenn er gerade dabei war, einen Fall, den man für wasserdicht gehalten hatte, vor Gericht in der Luft zu zerreißen. Er war stets bereit zu Gesprächen im Vorfeld eines Prozesses, immer zugänglich für rationale Argumente, und egal, mit welchem Ingrimm er einen Mandanten verteidigte, nie kam auch nur der geringste Zweifel an seiner Integrität auf. Cardinal hatte sich schon oft gewünscht, Scofield würde sich um den Posten des Staatsanwalts bewerben.
Kurz gesagt, es bestürzte Cardinal jedes Mal, Scofield bei einem Verfahren auf der Gegenseite zu sehen.
»Gentlemen«, sagte Scofield, »lassen Sie mich vorausschicken,dass ich es äußerst unerquicklich finde, zu so später Stunde gerufen zu werden.«
»Wenn Sie Felt verteidigen«, erwiderte Cardinal, »werden Sie sich noch wünschen, überhaupt nicht gerufen worden zu sein.«
Scofield hatte dunkle Augenbrauen – sehr ausdrucksvoll und sehr nützlich, um sowohl vor Gericht eloquent schweigend Skepsis und eine ganze Reihe subtilerer Gefühle zum Ausdruck zu bringen, als auch wie im vorliegenden Fall wohlwollende Besorgnis.
»Detective Cardinal«, sagte er, »ich möchte Ihnen mein tiefstes Beileid aussprechen.«
»Danke.« Es gab einfach nichts anderes zu sagen. Scofield war entweder die Rechtschaffenheit in Person oder in der Lage, Ernsthaftigkeit nach bester Hollywoodmanier zu spielen.
»Und ich möchte Ihnen das hier geben.«
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