Eisiges Herz
hatte, um sich vom Streifendienst eine Gefälligkeit zu erschleichen.
»Hören Sie zu, John.« Sie waren schon so lange Kollegen, dass sie sich mit Vornamen ansprachen, wenn sie außer Hörweite der übrigen Kollegen waren. »Sie werden mir zwar sagen, dass es mich nichts angeht, aber …«
»Es geht Sie nichts an, Mary …«
»Eigentlich doch. Weil es etwas mit korrektem Verhaltenim Dienst zu tun hat, und das fällt ziemlich genau in meinen Zuständigkeitsbereich, nämlich die Ausbildung der Neulinge, aber darum geht es mir gar nicht. Ich spreche Sie darauf an, weil wir Freunde sind und weil ich genug Achtung vor Ihnen habe, um Ihnen zu sagen, wenn ich der Meinung bin, dass Sie einen Fehler machen.«
»Ich mache viele Fehler. Um welchen genau geht es Ihnen?«
»Erstens, mein Lieber, dürften Sie noch gar nicht wieder im Dienst sein. Sie trauern immer noch, und Sie werden noch lange trauern. Das Polizeirevier ist kein Ort für gebrochene Herzen.«
»Sie hat mich nicht sitzen lassen. Sie, äh …«
Ist gestorben
. Er würde die Worte nie über die Lippen bringen. Nicht im Zusammenhang mit Catherine.
»Das weiß ich, John. Also sollten Sie sich zugestehen, dass Sie auch nur ein Mensch sind. Gestehen Sie sich zu, dass Sie vielleicht im Moment überreagieren und dazu neigen, Fehler zu machen. Ich bin kein Detective, ich werde Ihre Ermittlungsmethoden nicht in Frage stellen.«
»Er hat gegen die Bewährungsauflagen verstoßen. Auflagen haben entweder einen Sinn oder nicht. Man kann nicht beides haben.«
»Sehen Sie, so etwas zum Beispiel würden Sie normalerweise nie sagen. Sie sind nicht der Typ, der alles nur schwarz oder weiß sieht. Ich rate Ihnen nur, sich noch eine Weile freizunehmen. Sie sind noch nicht wieder in Topform.«
»Sind Sie fertig?«
»Ja, Mama Mary ist fertig, Schätzchen.«
»Gut. Denn ich hab zu tun.«
Roger Felts Bewährungshelfer war Wes Beattie. Zwar telefonierte Cardinal häufig mit Beattie, doch er hatte ihn schonseit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Beattie hatte inzwischen einen buschigen Vollbart und erschien ungewöhnlich formell gekleidet in Anzug und Krawatte.
»Meine Güte, Wes«, sagte Cardinal. »Haben Sie sich in einer Limousine herbringen lassen?«
»Sie haben mich aus der Oper geholt«, schnurrte Beattie. »Da versucht man einmal im Jahr, sich ein bisschen Kultur zu gönnen, und schon wieder ruft die Pflicht.«
»In Algonquin Bay gibt es keine Oper.«
»Heute Abend schon. Die Manhattan Light Opera Company gibt eine einzige Vorstellung in der Stadthalle, und Sie reißen mich da raus.«
»Felts Anwalt ist unterwegs, und der Staatsanwalt ebenfalls.«
»Freuen Sie sich nicht zu früh, John«, sagte Beattie. »Ich hab schon mit dem Staatsanwalt gesprochen, und er wird nur Anklage erheben, wenn ich es befürworte. Und ich muss Ihnen gestehen, John, dass mir das zutiefst widerstreben würde.«
»Roger Felt hat gegen die Bewährungsauflagen verstoßen, Wes. Er operiert im Finanzsektor unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Er hat mir Droh- und Schmähbriefe geschickt, die Sie sich vielleicht ansehen sollten, ehe Sie sich entscheiden und dem Staatsanwalt Ihre Empfehlung geben.«
Beattie gehörte zu der Sorte korpulenter Männer, die eine ansteckende Ruhe verströmen. Er stand vor Cardinal und wippte beim Zuhören auf den Absätzen. Dabei nickte er die ganze Zeit verständnisvoll. Ein Bewährungshelfer – bedrängt von Richtern, Straftätern, Opfern, Anwälten und nicht zuletzt gestressten Polizisten – lernt entweder gut zuzuhören oder dreht durch.
»Können wir uns irgendwo hinsetzen und uns in Ruhe unterhalten?«, fragte er. Sein verständnisvoller Ton gab Cardinalplötzlich das Gefühl, als führte er sich auf wie ein quengelndes Kind.
»Ja, sicher.«
Cardinal ging mit ihm ins Sitzungszimmer, wo Felts Gerätschaften immer noch auf dem Tisch standen.
Cardinal hielt einen Briefbogen mit Briefkopf hoch. »Ist Ihnen klar, dass es sich bei Beckwith & Beaulne um eine Scheinfirma handelt?«
»Streng genommen trifft das nicht zu, John. Es ist ein Buchhaltungsbüro, betrieben von Roger Felt, der freiberuflich arbeitet. Beckwith & Beaulne ist nichts weiter als ein Name – es spielt keine Rolle, dass es sich nicht um echte Personen handelt. Merrill und Lynch sind auch schon seit Ewigkeiten tot.«
»Merrill und Lynch waren echte Personen, die eine Firma gegründet haben.«
»John, mit dem Betrugsvorwurf werden Sie nicht durchkommen. Roger führt tatsächlich die
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