Eisiges Herz
Scofield reichte Cardinal mehrere Dokumente und gab Wes Beattie einen Satz Kopien. »Deswegen bin ich so spät dran. Ich bin noch kurz in der Kirche gewesen und habe mit Pastor Mkembe gesprochen. Da er Priester ist, würden Sie wahrscheinlich nicht auf einer eidlichen Aussage bestehen, aber für alle Fälle habe ich eine mitgebracht. Pastor Mkembe schwört, dass Roger Felt am Dienstag, dem siebten den ganzen Abend – und zwar von acht bis elf Uhr – in der Kirche an einer Benefizveranstaltung teilgenommen hat. Die anderen eidlichen Aussagen sind von einem Diakon und von Schwester Catherine Wellesley, die ebenfalls bezeugen, dass Roger Felt an dem Abend in der Kirche war. Offenbar hat er über die Einnahmen aus dem jährlichen Flohmarkt Buch geführt – wofür er, wie ich betonen möchte, kein Honorar verlangt hat.«
Cardinal war nicht selbstgerecht. Er war katholisch erzogen und folglich ausgestattet mit einer überdimensionalenBürde aus Schuldgefühlen. Er wusste, dass er fähig war, Dinge zu tun, für die er sich später schämte, ja, er hatte sogar schon selbst gegen das Gesetz verstoßen, und deswegen war er kein Polizist, der auf hohem Ross an einem Tatort erschien, entschlossen, alle Übeltäter der Welt zur Strecke zu bringen. Und je älter er wurde – und je weiter er sich von der Religion entfernte, in die er hineingeboren war –, umso weniger traute er Leuten über den Weg, die die Rechtschaffenheit für sich gepachtet hatten: rechtschaffene Gangster, die Rivalen grün und blau prügelten, weil sie es gewagt hatten, einen Fuß auf ihr Territorium zu setzen, rechtschaffene Ehemänner, die ihre Frauen mit Füßen traten, mit Messern verletzten oder gar erschlugen, um ihnen »Respekt« beizubringen, rechtschaffene Polizisten, die Knie und Ellbogen zum Einsatz brachten, wenn sie jemanden verhafteten, von dem sie annahmen, dass er durch das Netz der Justiz schlüpfen könnte. Cardinal, der sein Leben in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt hatte, hatte gelernt, dass derartige Rechtschaffenheit eine Menge Unrecht mit sich brachte.
Es war ein harter Schlag für ihn, vor seinen eigenen Augen als selbstgerechter Polizist entlarvt zu werden, der einen Rachefeldzug gegen einen Unschuldigen führte. Die Scham kroch ihm heiß in den Nacken, und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
Wes Beattie begriff nur langsam. »Das verstehe ich nicht. Was zum Teufel hat Dienstag der Siebte damit zu tun, dass Roger geschmacklose Beileidskarten mit der Post verschickt?«
»An dem Abend ist Detective Cardinals Frau gestorben«, sagte Scofield. »Ich möchte Sie noch einmal meines tiefen Mitgefühls versichern, Detective. Ich bringe das Thema nur ins Gespräch, weil die Umstände mich dazu zwingen.«
Beattie, der entspannt zurückgelehnt auf seinem Stuhl gesessenhatte, richtete sich auf und beugte sich mit seinem enormen Brustkorb über den Tisch. »Soll das heißen, Sie haben sich auf dem Weg hierher drei eidliche Aussagen besorgt, um einen Mandanten zu verteidigen, gegen den noch gar keine Anklage erhoben wurde? Niemand hat von Mord gesprochen – zumindest nicht Ihnen gegenüber. Jedenfalls noch nicht.«
»Ganz genau, Mr. Beattie. In dem Moment, als ich Ihren Anruf erhielt, war mir klar, dass es nur eine Erklärung geben kann für diese bedauerliche Sachlage. Ich kenne Detective Cardinal schon viel zu lange, und ich habe schon oft genug vergeblich versucht, seine Aussagen zu entkräften, um nicht den größten Respekt für ihn zu empfinden. Wenn Detective Cardinal sich so ins Zeug legt, um meinen einigermaßen resozialisierten Mandanten zurück ins Gefängnis zu bringen, dann muss mehr dahinterstecken als ein paar geschmacklose Beileidskarten. Ich habe in der vergangenen Woche eine Reihe von Straftätern vor Gericht vertreten, und mir ist einiges an Gerüchten zu Ohren gekommen.«
»Gerüchte?«, fragte Cardinal. »Was erzählt man sich denn bei Gericht? Dass ich übergeschnappt bin? Dass ich vor lauter Trauer jeden Realitätssinn verloren habe?«
»Nichts auch nur annähernd so Krasses, Detective. Es heißt, der Gerichtsmediziner sei jung und unerfahren gewesen und dass ein älterer Kollege – oder auch eine Kollegin – wahrscheinlich eine gerichtliche Untersuchung angeordnet hätte.«
Es ermutigte Cardinal ein wenig – wenn auch nicht allzu sehr – zu hören, dass er möglicherweise Unterstützung hatte, dass er vielleicht nicht allein war.
»Und es heißt«, fuhr Scofield fort, »Detective Cardinal befinde
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