Eisiges Herz
Verzweiflung.
Dr. Bell schaltete auf Standbild. Die meisten Psychiater hätten Perry in die psychiatrische Klinik eingewiesen und Antidepressiva verschrieben. Unter der Rubrik »Gründe für die Einweisung« würden sie Krankengeschichte, Verhalten, Suizidgedanken und persönliche Lebensumstände eintragen. Und was würde dann passieren? Perry Dorns erbärmliches Leben würde weitergehen, und er würde allen, die mit ihm zu tun hatten, das Leben schwer machen. Dabei war es so unnötig, sein Leiden zu verlängern. Der Ausweg, nach dem er so verzweifelt suchte, stand ihm längst offen.
Dr. Bell ließ den Film weiterlaufen.
»Haben Sie die Hausaufgabe erledigt, um die ich Sie gebeten habe?«, sagt er auf dem Bildschirm. Und als keine Antwort kommt: »Perry?«
Perry windet sich. »Ich hab’s versucht.«
Perry langt in seine Hosentasche und bringt ein zerknülltes Blatt Papier zum Vorschein. Dann, wie mit letzter Kraft, setzt er sich auf und wirft es auf den Tisch vor ihm, so dass es auf Dr. Bell zurollt.
Dr. Bell nimmt das Blatt und streicht es glatt.
»›Liebe Margaret‹«, liest Dr. Bell vor. »Warum haben Sie nach ›Liebe Margaret‹ aufgehört?«
»Weil es zwecklos ist. Sie will nichts von mir wissen. Sie interessiert sich nicht für meine Gedanken. Sie will nicht wissen, dass ich sie immer noch liebe. Sie will, dass ich aus ihrem Leben verschwinde. Genau deswegen dachte ich, ich erspar ihr das lieber und sehe zu, dass ich endgültig aus ihrem Leben abtrete.«
»Aber Sie haben es nicht getan.«
»Noch nicht. Irgendwie fürchte ich immer noch, dass sie und Stanley sich bloß freuen würden, wenn ich mir eine Kugel in den Kopf jage.«
»Meinen Sie das ernst?«, fragt Dr. Bell. »Glauben Sie wirklich, sie würden sich darüber freuen? Lassen Sie es mich anders formulieren: Wie wird Margaret Ihrer Meinung nach reagieren, wenn sie von Ihrem Tod hört? Und wenn sie Ihren Abschiedsbrief erhält? So wie er jetzt ist …«
»Sie wird schockiert sein. Sie wird bestürzt sein. Vor allem, weil sie wahrscheinlich fürchtet, dass die Leute ihr die Schuld geben. Aber das werden sie nicht tun. Sie werden sich liebevoll um sie kümmern – alle sind immer so um sie besorgt – und ihr versichern, dass es nicht ihre Schuld ist. ›Du warst doch immer so lieb zu ihm‹, ›Arme Margaret, dabei hast du dir solche Mühe gegeben, ihm nicht wehzutun.‹ Ich war das Problem. Mit mir stimmte was nicht. Ich hatte
Probleme
.«
»Wird sie ihnen glauben?«
»Klar. Sie glaubt alles Negative, das jemand über mich sagt.«
Schweigen.
Dr. Bell ging dasselbe durch den Kopf, was er während jener Sitzung gedacht hatte: Perrys Plan war nicht gut genug durchdacht. Sein Selbstmord würde nicht die Wirkung haben, die der junge Mann sich wünschte. Aber so etwas musste dramaturgisch ausgefeilt werden wie eine Theateraufführung. Auf dem Bildschirm macht Dr. Bell seinen nächsten Zug. Läufer bedroht König, der Ritter mit dem Abschiedsbrief blockiert die anderen Fluchtwege.
»Irgendetwas fehlt«, sagt Dr. Bell, lehnt sich zurück und betrachtet die Zimmerdecke wie ein Philosoph, der über den Sinn des Lebens nachdenkt und seine Theorie auf Schwachpunkte überprüft. »Nein, das stimmt nicht …«
»Wie?« Perry richtet sich auf wie eine Katze, die ihren Fressnapf klappern hört.
»Ach, eigentlich nichts. Nur ein Gedanke …«
»Nein, ich will es wissen. Wirklich. Was wollten Sie sagen?«
»Nun, ich musste gerade an den Waschsalon denken. Mir ist eingefallen, dass der Waschsalon für Sie beide eine symbolische Bedeutung hatte, als Sie anfangs zusammen waren. Sie haben einmal gesagt, dass es für Sie war wie ein sauberer Anfang. Ich erinnere mich noch, dass mir das sehr geistreich erschien. Keiner von Ihnen beiden hatte Bazillen – so haben Sie sich ausgedrückt – einer alten Beziehung an sich. Und da dachte ich gerade …«
»Der Waschsalon«, sagt Perry. Er wirft ein halb aufgelöstes Kleenex auf den Tisch. »Ganz genau, das würde sie kapieren.«
Dr. Bell schaltete auf Standbild.
Schachmatt.
26
S eit Delorme mit Cardinal zusammenarbeitete, hatte sie noch nie einen Grund gehabt, an seinem Geisteszustand zu zweifeln. Als sie jedoch hörte, dass er Roger Felt verhaftet hatte, weil er ihn verdächtigte, Catherine ermordet zu haben – die Geschichte hatte sich in Windeseile auf dem ganzen Revier herumgesprochen –, fragte sie sich, ob die Trauer ihn allmählich um den Verstand brachte.
Aber im Moment konnte sie sich
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