Eisiges Herz
nicht den Kopf über Cardinal zerbrechen. Irgendwo gab es ein zwölf- oder dreizehnjähriges Mädchen, das auf schlimme Weise missbraucht worden war und das auch weiterhin missbraucht werden würde, wenn es Delorme nicht gelang, das Kind mit Hilfe der Kollegen aus Toronto zu finden. Aus diesem Grund war sie an ihrem freien Tag bei André Ferrier.
Delorme war weiß Gott keine besonders gute Hausfrau. An manchen Tagen – zugegeben, wochenlang – häufte sich die Wäsche zu Bergen, stapelte sich das Geschirr in der Spüle und tummelten sich Staubmäuse unter den Schränken. Andererseits gab es, wenn man allein lebte, niemanden, der meckerte, wenn man nicht dauernd sauber machte. Sie war also nicht übertrieben kritisch gegenüber der Haushaltsführung anderer Leute.
Aber die Zustände im Hause der Ferriers übertrafen alles, was Delorme je gesehen hatte. Die Jalousien waren heruntergelassen und so eingestellt, dass die durchscheinenden Lichtstreifen nicht den Fußboden, sondern die Decke trafen. Überall hingen Spiegel, Bilder und Kunstwerke. Doch das Durcheinander hatte nichts Kunstvolles, es war unangenehm.
Als gehörte sie zum Kontrastprogramm, war Mrs. Ferrier tadellos gekleidet, und ihr Nackenknoten wurde von einem Haarnetz zusammengehalten, aus dem keine einzige Strähne entkommen konnte. Sie führte Delorme ins Wohnzimmer und bat sie, in einem Sessel Platz zu nehmen, der unter den vielen Kissen kaum noch zu erkennen war.
»Oh, Entschuldigung«, sagte Mrs. Ferrier, griff einen Armvoll Kissen und legte sie auf den Boden. Dann, nachdem sie sich selbst einen Platz inmitten der Kissenberge auf dem Sofa freigeräumt hatte, versanken ihre Füße in einem Meer aus Kissen, Stofftieren und schlafenden Hunden – nichts, was Delorme von einem der Fotos wiedererkannte. Vor einem Radiator schnarchte ein offenbar stocktauber Bernhardiner, daneben ein grauer Pudel, der kurz ein Auge öffnete, um gleich wieder in Tiefschlaf zu versinken, und ein braun-weißer Sheltie, der womöglich tatsächlich bereits das Zeitliche gesegnet hatte. Im ganzen Zimmer roch es nach Hund.
Obwohl Delorme eigentlich keine Allergikerin war, verspürte sie plötzlich starken Juckreiz.
»Also, was möchten Sie von mir wissen?«, fragte Mrs. Ferrier. Im Gegensatz zu dem Chaos in ihrem Wohnzimmer wirkte sie in ihrem cremefarbenen Pullover und den Jeans regelrecht aseptisch. Sie war etwa Mitte dreißig, hätte aber auch für zehn Jahre älter durchgehen können. Delorme, die selbst kinderlos war, kamen Eltern immer unglaublich erwachsen vor.
Sie erzählte Mrs. Ferrier, dass sie in einem Fall von Körperverletzung ermittelte, der sich im Jachthafen zugetragen hatte.
»Das schockiert mich wirklich. Also, wir haben da draußen noch nie irgendwelchen Ärger gehabt. Wann ist es denn passiert?«
»Wir wissen es noch nicht genau«, erwiderte Delorme. Sie konnte schlecht sagen, vor zwei oder drei Jahren.
Sie stellte Mrs. Ferrier dieselben Fragen wie den anderen, erkundigte sich nach den Nachbarn, ob es Beschwerden gegeben habe, ob sie je etwas Verdächtiges beobachtet habe. Die Antworten waren ebenfalls mehr oder weniger dieselben: Die Leute im Jachthafen pflegten einen freundlichen, wenn auch distanzierten Kontakt, hin und wieder gebe es Meinungsverschiedenheiten, aber sie habe sich im Hafen nie unsicher gefühlt.
Delormes Blick fiel auf die Fotos, die eine ganze Wand bedeckten.
»Was macht Ihr Mann eigentlich beruflich, Mrs. Ferrier?«
»Er ist Autoverkäufer. Bei der großen Nissan-Niederlassung. Aber das hier ist sein geliebtes Steckenpferd«, fügte sie mit einer Handbewegung in Richtung der Wand hinzu. »André ist ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf.«
Plötzlich kamen von oben laute Fernsehgeräusche wie von Strahlenkanonen, von gebrüllten Befehlen und unterbrochen von dem Geräusch futuristischer Waffen. Schnelle Schritte auf der Treppe, und dann stand ein kleines Mädchen im Zimmer.
Sie war vielleicht sieben, acht Jahre alt, und ihre blonden Haare waren so fest zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, dass sich ihre Augen zu Schlitzaugen verzogen.
»Mum, kann ich zu Roberta rübergehen? Tammy und Gayle gehen auch hin.«
»Ich dachte, Roberta würde hierherkommen.«
»Ach Mama, bitte, bitte.«
Mrs. Ferrier warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Also gut, meinetwegen. Aber zum Mittagessen bist du wieder zurück.«
»Juhuu!«
Das Mädchen führte einen kleinen Freudentanz auf und rannte nach draußen.
»Nette Kleine«, sagte
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