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Eisiges Herz

Eisiges Herz

Titel: Eisiges Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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in der vorangegangenen Sitzung besprochen wurde. Wieder andere, pragmatischer veranlagte Therapeuten erkundigen sich nach »Hausaufgaben«, die sie dem Patienten auferlegt haben.
    Perry bricht das Schweigen. Der arme Perry.
    »Tut mir wirklich leid, dass ich neulich angerufen hab«, sagt er. »Tut mir leid, dass ich Sie gestört hab.«
    »Schon in Ordnung«, sagt Dr. Bell. »Mir tut es leid, dass ich Ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit schenken konnte. Aber es war einfach unmöglich.«
    »Ja, ich weiß. Ich kann schließlich nicht erwarten, dass jemand alles stehen und liegen lässt, sobald ich depressiv werde. Ich hatte ein schlechtes Gewissen anzurufen, aber ich … Ich hatte einfach das Gefühl, als würde ich kurz davorstehen,es zu tun, wissen Sie. Ich dachte wirklich, ich würde es tun …«
    Wie lange sollte man so ein Schweigen währen lassen? Hätte er Perrys Gedanken an seiner Stelle aussprechen sollen? Oder lieber zusehen, wie es dem Jungen immer und immer wieder durch den Kopf dröhnte? Als Kind hatte Dr. Bell einmal einen Film gesehen, einen alten Historienschinken, in dem einem bedauernswerten Gefangenen eine riesige Glocke über den Kopf gestülpt wurde, auf die die Folterknechte anschließend mit Hämmern einschlugen. Als die Glocke wieder hochgehoben wurde, lief dem Opfer Blut aus den Ohren. Ein langes Schweigen konnte manchmal denselben Effekt haben wie diese Glocke.
Ich bring mich um, ich bring mich um, ich bring mich um
, dröhnte es unablässig im Schädel.
    Und das war das Endspiel. Bell genoss es mit derselben Befriedigung wie ein Schachspieler, der sich die Aufnahme von einer gewonnenen Partie noch einmal ansieht. Den Sieg klar vor Augen, boten sich ihm mit jedem Spielzug mehr Möglichkeiten. Für den Patienten dagegen, der eigentlich schon verloren hatte – und dem nicht einmal bewusst war, dass er an einem Spiel beteiligt war –, blieben mit jedem Zug weniger Alternativen übrig, bis er schließlich keine Wahl mehr hatte.
    Auf dem Bildschirm lässt Dr. Bell das Schweigen währen. Perry senkt den Kopf.
    Dr. Bell wartet, bis das Schweigen sich wie Gas im ganzen Raum ausbreitet.
    Perry beginnt zu schluchzen.
    Dr. Bell schiebt eine Schachtel Kleenex über den Sofatisch. Springer bedroht Königin.
    Perry nimmt ein Kleenex und putzt sich die Nase. »Tut mir leid«, sagt er.
    »Sie waren verzweifelt«, sagt Dr. Bell. »Sie wollten sich das Leben nehmen.«
    Perry nickt.
    »Aber Sie haben es nicht getan.«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »War wohl zu feige. Ich bin einfach der größte Feigling der Welt.«
    Perry schnaubt verächtlich. Er braucht noch ein Kleenex.
    Es war erstaunlich, wie sehr ein Mensch von Selbsthass erfüllt sein und trotzdem weiterleben konnte, dachte Dr. Bell. Perry Dorn hätte sich eigentlich schon vor Jahren umbringen können, aber nein, er klammerte sich ans Leben, hielt Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr durch und litt wie ein Hund.
    »Es hat doch sicherlich nicht nur etwas mit Feigheit zu tun«, sagt Dr. Bell im Film. »Wovor sollten Sie denn Angst haben?«
    Achselzucken.
    »Die Schmerzen. Einerseits hab ich Angst vor den Schmerzen. Und ich hätte Angst, es falsch zu machen und mir am Ende nur das Gesicht wegzupusten, ohne mich wirklich umzubringen.«
    »Das könnte natürlich passieren, wenn man nicht aufpasst. Aber vielleicht gab es noch etwas anderes, das Sie dazu bewogen hat, von Ihrem Vorhaben zurückzuschrecken.«
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen?«
    »Nun, was würde Margaret denken, wenn sie erführe, dass Sie sich umgebracht haben?«
    »Wollen Sie eine ehrliche Antwort?«
    »Ja, eine ehrliche Antwort.«
    Perry denkt ein paar Minuten lang nach.
    »Na ja, anfangs würde sie wohl ziemlich bestürzt sein.«
    »Und dann? Auf lange Sicht?«
    »Auf lange Sicht würde es sie wahrscheinlich einen Scheißdreck interessieren. Sie würde bloß denken, dass das mal wieder gezeigt hat, was …«
    »Was für ein Versager Sie sind?«
    »Genau. Was ich für ein Versager bin.«
    »Sie wäre froh, Sie endlich los zu sein.«
    »Genau. Sie würde sich dazu beglückwünschen, dass sie mir rechtzeitig den Laufpass gegeben hat.«
    Selbstmord aus Rache, hatte Dr. Bell gedacht, aber nicht gesagt. Den Gedanken in Worte zu fassen würde ein unausgesprochenes Motiv ans Tageslicht bringen, das Perry hätte analysieren, womöglich verwerfen können. Aber so ging man nur vor, wenn man den Patienten um jeden Preis am Leben halten wollte.
    »Sie soll wissen, was sie Ihnen angetan hat,

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