Eisiges Herz
Abendstunde, die ihm überhaupt nicht vorkam wie eine bestimmte Stunde an einem bestimmten Ort, sondern eher wie eine Lücke zwischen den Stunden, eine Leere zwischen zwei Leben: seinem Leben mit Catherine und dem, was übrig geblieben war.
Er hielt an der Ampel an der Ecke.
»Lächerlich«, sagte er laut. »Keine fünf Minuten allein, und ich werde sentimental.«
Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass die Ampel auf Grün gesprungen war.
In seinem Haus herrschte eine nie gekannte Stille. Die Geräuschlosigkeit war so tief, so vollständig, dass es ihm schien, als wäre sie nicht nur um ihn herum, sondern in ihm, als würde sie ihn mit ihrer Kälte und Trostlosigkeit durchdringen. Es war, als wäre die Welt bis auf den geringen Raum, den er selbst einnahm, verschwunden.
Aus keinem Zimmer kam ein Geräusch von Catherine. Nirgendwo waren ihre Schritte zu hören: nicht in Pantoffeln, nicht barfuß, kein Tack, Tack, Tack von hochhackigen Pumps, kein Stampfen von schweren Schneestiefeln. Aus der Dunkelkammer im Keller drang kein Ton von Fleetwood Mac oder Aimee Mann. Kein Klappern von Entwicklerschalen,kein Summen eines Föhns. Kein plötzlicher Ruf: »John, komm dir das mal ansehen!«
Vergeblich versuchte Cardinal, ein Buch zu lesen. Er schaltete den Fernseher an. Ein Team von Spurensicherern trampelte durch einen Tatort und zerstörte Beweismittel. Eine Weile starrte er auf den Bildschirm, ohne etwas mitzubekommen.
»Der Versuch, so zu tun, als wäre alles ganz normal«, murmelte er vor sich hin. Aber nichts war mehr normal. Es würde noch sehr lange dauern, bis irgendetwas wieder normal sein würde.
Er nahm das gerahmte Foto von Catherine vom Regal, wo Kelly es wieder hingestellt hatte, das Foto, auf dem sie in ihrem Anorak zu sehen war, mit zwei Kameras über der Schulter.
Hast du dich umgebracht?
Er musste an all die Male denken, wo sie getobt hatte, wenn er sie wieder in die Klinik brachte, wo sie ihn verflucht hatte, weil er sich in ihre Krankheit einmischte, wo sie sich beklagt hatte, wenn er überprüfte, ob sie ihre Medikamente regelmäßig nahm. An all das Geschrei und die Tränen über die Jahre. Hatte sie das alles ernst gemeint? War das die echte Catherine gewesen? Er konnte einfach nicht glauben, dass die Frau, die er so lange geliebt hatte, ihm seine Liebe vor die Füße geschleudert hatte, dass sie ihm zu verstehen gegeben hatte: Nein, deine Liebe reicht mir nicht, du reichst mir nicht, lieber sterbe ich, als noch eine Minute länger mit dir zu verbringen. Genau das hatte Roger Felt ihm mit seinen Karten gesagt. Nein, das konnte er einfach nicht glauben.
Dennoch hatte er keinen Beweis dafür, dass es sich anders verhielt. Roger Felt, sein Hauptverdächtiger, hatte sich als rachsüchtiger Versager entpuppt. Und Codwalladers Chef hatte bestätigt, dass Codwallader, wie er behauptete, zur fraglichenZeit bei der Arbeit gewesen war. Die Filme der Sicherheitskamera bewiesen es.
Du hast den Abschiedsbrief geschrieben. Aber kann es wirklich sein, dass du dich umgebracht hast?
Hatte Catherine Feinde gehabt? Cardinal hatte genug Mordfälle untersucht, um zu wissen, dass man in dem Punkt sein blaues Wunder erleben konnte. Ein kleiner Drogendealer konnte sich als eine Seele von Mensch entpuppen, dessen Tod nicht von irgendwelchen Rivalen, sondern durch eine Überdosis herbeigeführt worden war.
Dann gab es die Heilige, die Frau, die bereitwillig sämtliche ehrenamtlichen Aufgaben übernahm, die immer die Erste war, die ihre Freunde aufforderte, »die Karte für Shirley zu unterschreiben«, die Besuche im Krankenhaus organisierte und Geld für das Sommerzeltlager sammelte. Bei solchen Heiligen konnte es passieren, dass sie mit dem Mann der falschen Frau geschlafen, Geld unterschlagen, sich Illusionen hingegeben oder heimliche Laster gepflegt hatten und in einem Mordfall entweder als Opfer endeten oder als Täter dastanden.
Aber Catherine? Gut, sie hatte ihre Grabenkriege im College geführt. Und sie alle verloren. Sie hatte weiß Gott eine scharfe Zunge gehabt, wenn sie wütend war, und es war durchaus denkbar, dass irgendein Konkurrent oder eine Konkurrentin am College sich über eine unüberlegte Bemerkung aufgeregt hatte. Und sie hatte mit ihren Fotografien Preise gewonnen – einige auf Bezirksebene, aber auch ein paar landesweit ausgeschriebene –, und ihre Werke waren mehrfach nicht nur in Algonquin Bay, sondern auch in Toronto ausgestellt worden. Wenn jemand einen Preis gewinnt, fühlt
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