Eisiges Herz
einer Luger, die er 1945 einem toten deutschen Soldaten abgenommen hatte.
Die Tür zum Arbeitszimmer von Bells Vater hatte offen gestanden, was noch nie vorgekommen war. Das Arbeitszimmer seines Vaters hatte niemand unaufgefordert betreten dürfen. Der kleine Frederick war nur wenige Male in dieses Zimmer zitiert worden, einmal, um ein Lob zu empfangen, weil er das Schuljahr als Klassenbester abgeschlossen hatte, mehrmals, um Strafe zu empfangen.
Sein Vater hatte ihm Angst und Schrecken eingejagt – mit seinen düsteren Stimmungen, seinen Wutanfällen –, aber er konnte auch liebenswert sein. Einmal, im Sommer, hatte er Frederick zu einem Spaziergang durch die Wiesen mitgenommen, um Schmetterlinge zu fangen und zu bestimmen, ein Nachmittag, der zu Bells glücklichsten Erinnerungen zählte. Sein Vater war Biologielehrer in der nahe gelegenen Grundschule gewesen, und er hatte tatsächlich immer dann entspannt und zufrieden gewirkt, wenn er jemandem etwas beibringen konnte.
Wenn er sich abends Zeit nahm, um seinem Sohn etwas zu erklären, war er ein anderer Mensch gewesen: geduldig, gutgelaunt und auf vielen Gebieten beschlagen. Er konnte ebenso über die Geschichte der Luftfahrt referieren wie über die Funktionsweise eines Verbrennungsmotors, die DNA-Struktur, die diatonische Tonleiter. Stundenlang konnte er mit dem kleinen Frederick zusammensitzen und ihm Dinge erklären,sie in einen größeren Kontext setzen, ihm Ratschläge geben, was er sich notieren oder wie er Zeichnungen anfertigen sollte, um das Gelernte zu behalten. Und zwischendurch legte er dem Jungen immer wieder eine Hand auf die Schulter und sagte: »Roll nicht so mit den Schultern, das wird noch mal zu einem Tick.«
Bell hatte immer noch das kleine Modell einer Dampfmaschine, das sein Vater ihm geschenkt hatte, der es wiederum von seinem Vater bekommen hatte. Ein einfaches, formschönes Spielzeug mit einem winzigen Messingdampfkessel, der von zwei Messingbügeln über einem hölzernen Unterbau gehalten wurde. Der Kessel hatte einen fest sitzenden Deckel, den man abschrauben konnte, um aus einem Messbecher Wasser in die Öffnung des Kessels zu füllen. Ein Kolben, eine Antriebswelle, ein Schwungrad, das war alles. Man stellte eine winzige, mit Brennspiritus gefüllte Lampe unter den Kessel. Wenn das Wasser kochte, bewegte der Dampf den Kolben, der Kolben bewegte die Antriebswelle, die wiederum das Schwungrad in Bewegung setzte. Das Beste war das winzige Ventil an einem Ende des Dampfkessels, das, wenn man es mit einem Hebel öffnete, ein überraschend lautes Pfeifen von sich gab.
Diese pädagogischen Nachmittage und Abende waren allerdings Ausnahmen gewesen. Mr. Bell litt an Depressionen, die dazu führten, dass er tagelang sein Arbeitszimmer nicht verließ. Wenn er in so einer düsteren Stimmung war, tat man besser daran, ihn nicht zu stören. Selbst wenn Frederick einsam war und sich langweilte, weil alle seine Freunde irgendwohin in die Ferien gefahren waren, wagte er es nicht, an die Tür des Arbeitszimmers zu klopfen. Nicht selten saß der Junge auf dem Stuhl in der Diele vor dem Zimmer, saß einfach da, ließ die Füße baumeln und wartete darauf, dass sein Vater endlich herauskam.
Manchmal hörte er jemanden im Arbeitszimmer weinen, hörte, wie Papier zerrissen, wie ein Buch an die Wand geworfen wurde, obwohl sein Vater ganz allein da drin war. Das Schluchzen beunruhigte den Jungen, es machte ihm Angst. Hin und wieder klopfte seine Mutter vorsichtig an die Tür. Dann hörte das Schluchzen auf, und sie ging hinein. Durch die Tür hörte Frederick ihre Stimme, fragend, tröstend, flehend, und die lakonischen, unverständlichen Antworten seines Vaters.
Damals hatte niemand einen Namen dafür gehabt, zumindest niemand innerhalb der Familie. Menschen hatten Stimmungen, manche hatten eben besonders düstere Stimmungen, das war alles. Sie lebten in England, sie hatten den Krieg überstanden, etwas Schlimmeres konnte es nicht geben. Kopf hoch, hieß es, nur keine Gefühle zeigen, nicht murren und sich unter keinen Umständen anmerken lassen, dass man emotionale Probleme hatte. Das Wort
Depression
nahm niemand in den Mund.
Und so stellte Frederick keine Fragen, als seine Mutter ihm erklärte, sein Vater habe beim Säubern seiner Pistole einen schrecklichen Unfall gehabt. Und doch wunderte er sich. Einmal hatte sein Vater ihn mit in sein Arbeitszimmer genommen, um ihm zu zeigen, wie man eine Schusswaffe reinigte und pflegte. So etwas war
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