Eisiges Herz
vollkommen verwirrt, denn wenn er diese Dinge mit ihr tat, war er gleichzeitig so
nett
zu ihr. Aufmerksam. Liebevoll. Lustig. Er tat alles, was sie wollte – mit Puppen spielen, mit Phantasiegästen Tee trinken – solange sie tat, was er wollte.
Manchmal nahm er sie mit zum Angeln an einen von den kleineren Seen. Sie fuhren mit einem Ruderboot hinaus aufs Wasser. Er erklärte ihr, wie man die Haken und Köder befestigte. Geduldig brachte er ihr bei, wie man die kleine Angelleine, die er ihr gekauft hatte, auswarf. Er zeigte ihr, wie man die Fische ausnahm und wie man sie so briet, dass sie köstlich schmeckten.
Natürlich gab es das alles nicht ohne Gegenleistung. Nachts im Zelt musste sie sich all die Aufmerksamkeit und all den Spaß verdienen. Im Zelt musste sie für ihn posieren und seine Wünsche erfüllen. Im Zelt bestand ihre Aufgabe darin, ihm zu Gefallen zu sein. Und er dachte sich immer neue Methoden aus, wie sie ihm zu Gefallen sein konnte.
Eines Tages, Jahre später, hatte ihre Freundin Rachel sie schockiert, als sie ihr ein paar Bilder auf dem Computer gezeigt hatte, den sie sich mit ihrem älteren Bruder teilte. Angewidert und zugleich fasziniert hatte Rachel von Bild zu Bild geklickt und dabei die ganze Zeit gekichert. Damals waren sie beide zwölf gewesen.
»Ihh, wie ekelhaft«, rief Rachel aus.
»Ihh, wie ekelhaft«, wiederholte Melanie, bemüht, denselben entgeisterten Ton zu treffen. Aber sie merkte, dass sie die Bilder nicht mit denselben Augen sah wie Rachel. Das Entsetzen und Staunen ihrer Freundin war echt und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie unschuldig war.
»Machen die Leute so was wirklich?«, rief Rachel. »Das ist ja widerlich.«
»Abartig«, sagte Melanie.
»Also, das ist das Perverseste, was ich je gesehen hab! Ich glaub, ich muss gleich kotzen!«
Nein, Rachel hatte so etwas noch nie in ihrem Leben gesehen. Aber Melanie hatte solche Dinge nicht nur gesehen, sondern auch getan. Sie tat sie, seit sie sieben Jahre alt war.
Hin und wieder huschte ein Schatten hinter den Vorhängen am Wohnzimmerfenster vorbei. Der Schatten eines Mannes.
»Komm raus«, murmelte Melanie vor sich hin. »Komm nur raus, du Dreckskerl, dann sag ich dir, was ich von dir halte.«
Seit dem Tag, an dem sie die Bilder im Internet gesehen hatten, war die Freundschaft zwischen den beiden Mädchen abgekühlt. Rachel war so angewidert gewesen, dass Melanie sich gefragt hatte, was sie wohl denken würde, wenn sie Bescheid wüsste. Sie würde entsetzt sein, sie würde sich abgestoßen fühlen. Sie würde nie wieder etwas mit Melanie zu tun haben wollen.
Eine neue Angst hatte von ihr Besitz ergriffen. Offenbar gab es zahllose solcher Fotos im Internet, von ganz normalen Leuten, manche von Jugendlichen. Zum ersten Mal fürchtete Melanie, dass es auch Hunderte Fotos von ihr im Internet geben könnte, die nur darauf warteten, dass einer ihrer Freunde sie entdeckte. Seitdem lebte sie ständig mit dieser Angst.
All diese Fotos, unzählige Fotos. Denn es passierte nichtnur auf besonderen Ausflügen. Selbst zu Hause, jedes Mal, wenn ihre Mutter auch nur für ein paar Stunden fort war, kam der Dreckskerl zu Melanie ins Zimmer. Als Liebkosungen und Aufmerksamkeiten nicht mehr ausreichten, um sie gefügig zu machen, bot er ihr Geld. Wie wär’s mit ein paar Dollar für eine neue CD? Wünschst du dir vielleicht neue Jeans von Guess? Darüber können wir reden. Wenige Tage später hatte ihre Mutter sich über die neuen Jeans gewundert. Wo hast du denn die teuren Jeans her?
»Ach, Mel hat mir geholfen, den Keller aufzuräumen«, sagte der Dreckskerl, »und ich hab ihr ein bisschen Geld gegeben.«
Und einmal waren sie auf einem Boot gewesen, diesem tollen Kajütboot, das der Dreckskerl sich von irgendeinem Bekannten ausgeliehen hatte. Zu dritt waren sie tagelang auf dem Trout Lake herumgeschippert und hatten alle zusammen in derselben Kabine geschlafen. Ihre Mutter und der Dreckskerl auf der einen, Melanie auf der anderen Seite. Da war sie ungefähr elf gewesen. Einmal war sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufgeschreckt. Der Dreckskerl saß auf ihrer Bettkante und befummelte sie unter ihrem Schlafanzug, während ihre Mutter nicht mal einen Meter weit entfernt schlief. Er musste ihr ein Schlafmittel in den Wein getan haben. In jener Nacht hatte Melanie sich ein paar neue Nikes verdient.
Und jetzt kam der perverse Typ aus dem Haus. In fünf Jahren hatte er sich kaum verändert. Er trug eine
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