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Eisiges Herz

Eisiges Herz

Titel: Eisiges Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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geblutet?«
    Sie schüttelte den Kopf und starrte auf ihre Füße. Bell sah, wie sie zitterte, als die Wesenheit ins Zimmer trat. Die schattenhafte, unter einer Kapuze verborgene Gestalt aus Eis und Tod legte der jungen Frau einen Arm um die Schultern.
    »Normalerweise hat er aufgepasst, dass so was nicht passierte«, sagte Melanie. »Und meistens wollte er Oralsex. Bis meine Lippen ganz taub waren. Manchmal war ich wund zwischen den Beinen. Ein paarmal, wenn ich nicht schlafen konnte, hat meine Mutter mich gefragt, was los sei, und am liebsten hätte ich es ihr erzählt. Gott, ich hätte es ihr so gern erzählt.«
    »Aber Sie haben es nicht getan.«
    »Nein.«
    »Weil …«
    »Weil ich zu viel Angst hatte. Er hat mir gesagt, wenn irgendjemand davon erführe, würde ich abgeholt und in eine Besserungsanstalt gesteckt. Und er würde ins Gefängnis kommen.«
    »Die körperlichen Schmerzen waren also nicht das Schlimmste. Was war es dann? Die Angst?«
    Melanie nickte und umschlang sich mit den Armen, als wäre es eiskalt, obwohl die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen, das Zimmer fast überhitzten.
    »Ich hatte die ganze Zeit Angst. Ich hatte so schreckliche Angst, dass irgendjemand davon erfahren könnte.«
    »Wegen der Konsequenzen, die Sie eben erwähnten?«
    »Ja. Aber auch – das war später, als ich ungefähr dreizehn war –, dass meine Mutter es rausfinden könnte. Weil ich wusste, dass es ihr sehr wehtun würde. Und weil ich wusste, dass ich etwas nahm, das ihr gehörte. Ich habe meiner eigenen Mutter etwas Unrechtes angetan.«
    »Indem Sie mit ihrem Mann schliefen.«
    Das dürfte die Schleusen öffnen, dachte Bell, als er sah, wie Melanie schluckte.
    »Es war, als wäre ich seine Zweitfrau. Es …«
    Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Herzzerreißende Schluchzer brachen aus ihr heraus, sie krümmte sich zusammen.
    Dr. Bell reichte ihr die Kleenexschachtel und wartete. Wieder einmal mehr war er beeindruckt von der Macht der Schuldgefühle. Geschickt eingeflößt waren sie wirkungsvoller als jede Droge.
    Als Melanie sich wieder halbwegs gefasst hatte, sagte er: »Sie hatten also Angst. Und Sie hatten Schuldgefühle, weil Sie Ihrer Mutter den Mann wegnahmen. Das ist eine große Überforderung für ein kleines Mädchen. Aber kommen wir noch einmal auf WonderWorld zurück. Etwas, das Sie vorhin sagten, ließ mich darauf schließen, dass das Wochenende in WonderWorld das Allerschlimmste gewesen sein könnte, aber wir haben immer noch nicht über die Einzelheiten gesprochen.«
    Melanie nickte. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, ihre Wangen von schwarzer Wimperntusche verschmiert. Die Wesenheit hatte sie in eine Lumpenpuppe verwandelt.
    Im Allgemeinen lässt ein Therapeut den Patienten in seinem eigenen Tempo vorgehen. Man durfte einen Patienten nicht drängen, denn es bestand die Gefahr, dass er sich entweder noch stärker hinter Schutzmauern verbarrikadierte, weil er so viel auf einmal nicht verdauen konnte, oder dass man eine Gefühlslawine auslöste, auf die der Patient noch nicht vorbereitet war. Je nach vorliegender Neurose konnte das verschiedene Reaktionen auslösen: dass der Patient davonlief, dass er zu toben begann oder dass er sich umbrachte.
    Und so drängte Dr. Bell seine Patientin, ihm Einzelheitenzu offenbaren. Melanie war jung und leidenschaftlich und hatte ein starkes Bedürfnis, sich von ihrem Leid zu befreien. Mit diesen Voraussetzungen konnte Dr. Bell arbeiten.
    »Zunächst einmal möchte ich mich vergewissern, dass ich Sie richtig verstanden habe. Sie konnten es kaum erwarten, auf all den Karussells in WonderWorld zu fahren, und genau das hatte er Ihnen versprochen. Sie kommen also an, er bringt Sie in ein Hotelzimmer und verlangt, dass Sie ihm erst zu Diensten sind, ehe er mit Ihnen zu den Karussells geht. Er bietet Ihnen Karussellfahrten als Belohnung für Sex.«
    »Richtig.«
    »Sie haben das bereits angedeutet, als Sie sagten, er hätte Sie um eine Liste Ihrer Lieblingskarussells gebeten. Eine Art Weihnachtswunschliste. Sie erwähnten das Riesenrad.«
    »Genau. Wenn ich auf das Riesenrad wollte, dann, äh …«
    »Nehmen Sie sich Zeit, Melanie.«
    Sie ging ihr gesamtes Repertoire an Verzögerungstaktik durch: betrachtete ihre Füße, betrachtete ihre Fingernägel, seufzte tief, starrte aus dem Fenster, schaute auf die Wanduhr. Schließlich, als ihr nichts mehr einfiel, sagte sie – so leise, dass Bell sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen: »Für eine Fahrt

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