Eisiges Herz
machen Sie nicht endlich Schluss und sehen zu, dass Sie es diesmal nicht vermasseln?«
Vail sah ihn an. Der Schock in seinem sonst so gequälten Blick machte Bell Angst.
Um zu retten, was zu retten war, sagte er: »Nun, ich wollte Sie nicht erschrecken. Was ich sagen wollte ist: Sie hatten eine volle Schachtel Seconal zu Hause, aber stattdessen springen Sie ins Wasser, obwohl Sie genau wissen, dass Sie ein guter Schwimmer sind. Sie hätten Ihre Qualen ganz einfach mit einer Handvoll Tabletten beenden können, doch Sie haben sich dagegen entschieden. Vielleicht sollten wir uns auf das konzentrieren, was hinter dieser Entscheidung steht.«
Vail wirkte schon etwas weniger schockiert.
»Einen Moment lang dachte ich tatsächlich, Sie würden gleich auf mich losgehen.«
»Um Himmels willen, nein. Ich bitte Sie. Fahren Sie fort.«
Vail schien sich zu beruhigen. Er ließ sich wieder auf die Couch sinken und vertraute darauf, dass sein Psychiater bemüht war, ihm zu helfen.
Während der folgenden Monate machte Bell es sich zur Aufgabe, seine Wut verbergen zu lernen. Er versuchte es damit, sich vor einer Therapiesitzung an Situationen zu erinnern, in denen er glücklich gewesen war. Es funktionierte nicht, denn kaum wurde er mit dem Elend des Patienten konfrontiert, war alles wieder vergessen. Er versuchte es mit Sport, nahm das Rudern wieder auf. Aber das verursachteihm einen derartigen Muskelkater, dass er nur noch jähzorniger wurde – und zwar gegenüber jedem, nicht nur gegenüber den Patienten.
Doch schließlich bekam er seine Wut in den Griff, indem er sich die Fähigkeit antrainierte, sie nicht einmal mehr zu empfinden. Und er tat das, indem er sich verhielt wie jeder andere Psychiater auch. Er kam darauf, als er eines Nachmittags zum Rudern ging. Er blieb stehen, die Ruder in der Hand, und ließ sich schwer auf eine Bank am Flussufer fallen.
Die Themse schimmerte silbern und golden im letzten Sonnenlicht. Er hörte das Wasser plätschern, das Laub im Wind rascheln und von fern das Rauschen des Verkehrs. Einen Moment lang meinte er, ein Gespräch zu hören, das mehrere Straßen entfernt geführt wurde. Ein Augenblick völliger Verwirrung, hätte man meinen können, aber Bell erkannte, dass es ein Augenblick vollkommener Klarheit war.
Ihm war plötzlich bewusst geworden, dass man die Werkzeuge der Therapie auf ganz neue Weise benutzen konnte, genau wie ein Chirurg seine Klinge einsetzte. Man konnte dieselben Fragen stellen, die Brauen auf dieselbe Weise heben, tiefes Mitgefühl zeigen, positive Aufmerksamkeit schenken und alles, was dazugehörte. Aber wenn man das alles ganz leicht verdrehte, wenn man den Winkel um einige Grade änderte, konnte man den Patienten in eine ganz andere Richtung lenken.
Als Edgar Vail das nächste Mal sein Sprechzimmer verließ, versorgt mit einem neuen Rezept für Beruhigungsmittel, sprach Bell laut zu seinen mit Bücherregalen vollgestopften Wänden: »Erschieß dich und bring es endlich hinter dich, du erbärmlicher Versager.«
Die Worte schienen in dem leeren Zimmer widerzuhallen, und Bell wurde ganz schwindlig. Er musste laut lachen. Eswar so einfach, warum war er nicht eher darauf gekommen? Er lachte vor Verblüffung angesichts seiner Erkenntnis, aber auch aus Erleichterung.
Es war erstaunlich, wie einfach es war. Man nehme einen Patienten, der kreuzunglücklich ist, bestelle ihn zu ein paar Therapiesitzungen, um das Vertrauen herzustellen, und verschreibe ihm eine Familienpackung Schlaftabletten. Damals waren das noch Barbiturate. Bei richtiger Anwendung absolut tödlich.
In einigen Fällen, wie zum Beispiel bei Edgar Vail, der zwar vor Selbstverachtung verging, aber ansonsten ein völlig normales Leben führte, musste man sich vergewissern, dass die Patienten die richtige Dosierung kannten. Wenn sie zu viel nahmen – wie Bell aus der Erfahrung mit seiner Mutter wusste –, übergaben sie sich und hatten eine Chance zu überleben. Wenn sie zu wenig nahmen, kam nicht mehr dabei heraus als ein schlimmer Kater.
In anderen Fällen, bei Patienten, die aus unerklärlichen Gründen vor Gram gebrochen waren, so wie es bei seinem Vater der Fall gewesen war, musste Bell etwas geschickter vorgehen. Diese Leute bestellte er für Montag oder Dienstag zu einer Therapiesitzung und schickte sie mit einem Rezept für eins von diesen trizyklischen, schnell wirkenden Antidepressiva nach Hause. Bis zum Wochenende verfügte der Patient über genügend Energie, um sich die Pistole an
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