Eisiges Herz
die Universitätsbibliothek an einem Tag im September und verließ sie Jahre später mit einem Doktortitel. Nach weiteren vier Jahren an der London University hatte er die Approbation zum Psychiater, bereit zum Kampf mit der Wesenheit.
In den verschiedenen Kliniken, in denen er Praktika absolvierte, fiel seine besondere Begabung für die Behandlung vondepressiven Patienten auf, und er erhielt ausnahmslos hervorragende Beurteilungen. Sein letztes Praktikum machte er in der Kensington Clinic, wo man ihm nach den sechs Monaten eine Stelle als Assistenzarzt anbot. Er war engagiert, sensibel und stets auf dem Laufenden, was neue Medikamente anging. Seine Resultate sprachen für sich.
Sein erstes Jahr war mit Arbeit und Erfolgen ausgefüllt. Irgendwie fand er trotzdem die Zeit, Dorothy Miller, einer Krankenschwester aus der Klinik, den Hof zu machen. Sie lachte über den sanften, witzigen Mann mit den nervösen Ticks – mit seinem Schulterrollen und Kopfschütteln –, und sie bewunderte ihn. Er fand Dorothy attraktiv, und es gefiel ihm, dass sie ihn gelegentlich dazu verdonnerte, mit ihr ins Kino oder essen zu gehen, damit er wenigstens hin und wieder wie ein normaler Mensch lebte.
Während seines zweiten Jahres als Psychiater fingen die Probleme an. Selbst dreißig Jahre später erinnerte er sich noch an das erste Mal, als die Veränderung sich deutlich bemerkbar machte. Schon seit einigen Wochen war es ihm immer schwerer gefallen, seinen Patienten zuzuhören. Manchmal schreckte er aus seinen Gedanken auf und merkte, dass er eine Frage nicht gehört hatte. Oder dass jemand ihm gerade etwas Wichtiges erzählt hatte und er gar nicht reagierte. Dann schaute der Patient ihn erwartungsvoll an, und er hatte keine Ahnung, weswegen.
Eines Tages beschrieb ihm ein Mann in mittleren Jahren – seit zwölf Jahren verheiratet, drei Kinder –, wie schrecklich deprimiert er sei, wie er jeden Morgen stöhnend und fluchend aufwachte, weil er nicht wusste, wie er den Tag hinter sich bringen sollte. Und plötzlich packte Bell die Wut. Er konnte sich das selbst nicht erklären, es kam wie aus heiterem Himmel. Er führte ein angenehmes Leben, er liebte seinen Beruf, und sein Patient hatte ihn nicht provoziert, und dennochspürte er, wie die Wut ihm vom Bauch in die Brust stieg und so stark wurde, dass er am liebsten aufgesprungen wäre, den Mann am Kragen gepackt und kräftig geschüttelt hätte.
An jenem Tag war das Gefühl ziemlich schnell wieder verflogen, doch diese Anwandlungen überkamen ihn immer häufiger. Und es war nicht nur dieser eine Patient, der die Wut in ihm auslöste, es waren alle seine Patienten – zumindest die mit Depressionen. Es war eine alarmierende, kräftezehrende Entwicklung, aber er wagte nicht, mit einem seiner Kollegen darüber zu sprechen.
Es wurde ihm zunehmend unangenehm, seinen Patienten überhaupt gegenüberzutreten. Er konnte es nicht ertragen, sich anzuhören, wie sehr sie sich selbst hassten, mit welcher Verachtung sie auf ihr Leben blickten. Er konnte es nicht ertragen, wie sie lamentierten, sie hätten keine Zukunft mehr, wie sie greinten, sie hätten das Leben so satt, sie hätten sich selbst satt, vor allem sich selbst. Es war eine Tortur.
Und dann passierte es eines Tages. Die Wut brach aus ihm heraus.
Edgar Vail war ein sechsunddreißigjähriger Werbegrafiker, der in die Klinik eingewiesen worden war, weil er versucht hatte, sich zu ertränken, nur um festzustellen, dass er ein besserer Schwimmer war, als er in Erinnerung hatte. In der Vergangenheit hatte es bereits Fälle von Suizid in seiner Familie gegeben, und im Augenblick fühlte er sich völlig isoliert. Zusätzliche Faktoren waren der Kummer über eine kürzlich erfolgte Scheidung und eine Reihe von beruflichen Enttäuschungen. Anders ausgedrückt, es gab eine Menge Gründe, traurig zu sein.
Vail wollte Bilder malen. Das heißt, er malte bereits Bilder, aber er fand keine Galerie, die seine Werke ausstellte, und niemand außer seinen Freunden hatte je ein Bild von ihm gekauft. Er redete endlos über das Thema, starrte auf den Boden,schüttelte den Kopf, fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte zu malen, meinte, vielleicht sollte er seine Pinsel einfach in den Müll werfen und die Kunst ganz aufgeben. Genauso sei es ihm mit seinem Liebesleben ergangen, fuhr er fort, obwohl er sich so große Mühe gegeben habe, sei nichts dabei herausgekommen.
»Warum bringen Sie sich nicht einfach um?«, stieß Bell hervor. »Warum
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