Eisiges Herz
hellwach.«
Und der Grund für deine Schlaflosigkeit war nicht, dass du Angst hattest, hätte Dr. Bell am liebsten laut gesagt. Es lag nicht daran, dass du dich vor dem gefürchtet hast, was er dir antun konnte, und auch nicht daran, dass du dich nach deiner Mutter gesehnt hast. Das waren nicht die Gründe, warum du nicht schlafen konntest. Ob du erst elf, zwölf Jahre alt warst, spielt keine Rolle. Es lag auch nicht daran, dass du wütend warst. Ich weiß genau, warum du nicht schlafen konntest. Die Frage ist nur, ob du es über dich bringst, es mir zu sagen.
Das Schlimmste über sich selbst zu offenbaren und zu akzeptieren, ohne es zu beurteilen, ist das Wichtigste und zugleich das Schwierigste in einer Therapie. Ohne diesen Schritt gibt es keine Therapie, keinen Fortschritt, keine Heilung, wenn dieser Schritt nicht erfolgt, ist alles nur Gerede. Stundenlanges Gerede.
Mit sanfter Stimme und so leise, dass sie es gerade hören konnte, sagte Bell: »Können Sie es mir sagen, Melanie? Können Sie mir sagen, warum Sie nicht schlafen konnten? Was waren das für Gefühle, die Sie damals nachts wachgehalten haben?«
»Na ja, äh … Ich wusste, was passieren würde. Ich meine, es passierte ja immer, jedes Mal, wenn er mit mir allein war. Vor allem nachts …«
»Sie waren ein Kind, Melanie.«
»Ich war elf! Vielleicht zwölf! Inzwischen hätte ich es besser wissen müssen!«
»Warum? Wie hätten Sie es besser wissen sollen? Hatte jemand ein Handbuch geschrieben: ›Wie ich meiner Muttersage, dass mein Stiefvater mich vergewaltigt‹? Haben Sie schon mal zwölfjährige Mädchen auf der Straße beobachtet? Im Kino? Oder sonstwo?«
»Ja, schon …«
»Und wie sind diese Mädchen?«
»Die meisten sind dumme Gänse. Total naiv.«
»Mit anderen Worten: Kinder.«
»Kinder. Genau.«
»Sie sind also elf, vielleicht zwölf Jahre alt, ein Kind, das in der Dunkelheit an diesem völlig sicheren, geheimen Ort im Bett liegt, zusammen mit einem Mann, der vorgibt, Sie zu lieben. Womöglich hat er Sie auf seine Weise sogar tatsächlich geliebt. Es ist niemand anders da. Was hat das kleine Mädchen empfunden?«
»Mir ist schlecht.«
»Müssen Sie sich übergeben?«
Ein kurzes Nicken. Sie ist blass und zittert, klammert sich am Sofa fest.
»Es sind die Worte, die sie ausspucken müssen, Melanie. Die Geheimnisse. Sagen Sie es mir, dann wird Ihnen nicht mehr übel sein. Ich verspreche es Ihnen.«
»Nein, ich muss mich wirklich übergeben.«
»Sie liegen im Dunkeln. Sie sind elf oder zwölf Jahre alt. Neben Ihnen liegt ein erwachsener Mann. Sie wissen, dass er zu Ihnen ins Bett kommen wird. Sie wissen, was er mit Ihnen machen wird. Was empfinden Sie? Sagen Sie es mir, Melanie, dann wird die Übelkeit verfliegen. Sie wissen, dass er zu Ihnen kommen wird. Was empfinden Sie, bevor er durch den dunklen Raum zu Ihnen ins Bett kommt?«
»Er ist nicht gekommen! Das ist es ja gerade, begreifen Sie das denn nicht? Er ist nicht zu mir gekommen!«
»Was ist denn passiert, Melanie? Sagen Sie es mir einfach.«
»Nein, ich kann nicht! Ich kann nicht! Und ich will nicht!«
»Doch, Sie wollen es. Sonst wären Sie nicht hier.«
»Bitte. Ich kann es einfach nicht.«
»Sie sagten, er ist nicht zu Ihnen gekommen. Er ist nicht zu Ihnen gekommen … sondern?«
»Ich kann nicht …«
»Er ist nicht zu Ihnen gekommen …«
»O Gott …«
»Er ist nicht zu Ihnen gekommen, und …«
»Ich bin zu ihm gegangen!«
Es folgte eine Sturzflut von Tränen, bis sie von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Während all seiner Jahre als Psychiater hatte Dr. Bell noch nie jemanden so heftig weinen sehen.
»Ich wollte es! Ich bin so krank! So pervers! Ich wollte, dass er es tat! Ich wollte, dass er es tat! Ich hab es mit ihm gemacht! Diesmal hab ich es mit ihm gemacht, können Sie sich das vorstellen? O Gott, ich hab es verdient zu sterben. Ich bin so eine dreckige Hure!«
Bell ließ sie weinen und weinen, bis sie keine Tränen mehr hatte.
»Ich bin so pervers«, sagte sie tonlos. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich überhaupt noch lebe.«
Sie wirkte plötzlich kleiner, als hätte die Schuld sie schrumpfen lassen.
»Ich fürchte, die Zeit ist um für heute.«
»O Gott.«
»Sie können noch eine oder zwei Minuten bleiben, wenn Sie wollen.«
»Nein, nein. Ist schon in Ordnung. Ich kriege das schon hin.«
Melanie strich ihre Haare glatt und stand unsicher auf. Immer noch schniefend, sammelte sie ihre Sachen zusammen und ging zur Tür. Sie öffnete
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