Eisiges Herz
den Kopf zu setzen, aufs Dach zu steigen oder eine Schlinge zu knoten. Es war, als würde man eine Lunte zünden. Von den ersten zwanzig von ihm betreuten Selbstmördern war etwa die Hälfte auf diese Weise geendet. Weitere fünfundzwanzig Prozent (darunter Edgar Vail) hatten sich für Sedativa entschieden. Die anderen waren so heillos depressiv gewesen, dass sie sich wahrscheinlich auch ohne seine Hilfe umgebrachthätten, in diesen Fällen rechnete Bell sich kein Verdienst an.
Aber das Verschreiben von Medikamenten war problematisch. Zum einen kam es ihm zu
einfach
vor. Die Medikamente übernahmen die ganze Arbeit, das war keine Herausforderung für einen Psychiater. Außerdem war es riskant. In der Krankengeschichte eines Selbstmörders machte sich ein Rezept über eine große Menge Sedativa überhaupt nicht gut, da die tödliche Wirkung der trizyklischen Antidepressiva hinlänglich bekannt war. In Swindon wäre er einmal um ein Haar über dieses Problem gestolpert. Auch später, in Manchester, hätte es beinahe eine Untersuchung gegeben, allerdings aufgrund der hohen Sterbequote seiner Patienten, nicht wegen zu großzügigen Verschreibens von Medikamenten. Jedenfalls war Bell vorsichtshalber nach Kanada gezogen. Er arbeitete schon lange nicht mehr mit Beruhigungsmitteln, sondern verließ sich einzig und allein auf seine therapeutischen Fähigkeiten.
31
N ach Dr. Bells professioneller Einschätzung hatte Melanie Greene nur noch wenige Wochen zu leben. Diesmal hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht und gleich drei – drei! – Abschiedsbriefe mitgebracht. Nicht dass er sie brauchen würde. Wenn er nicht mehr in der Lage war, ein solches Häufchen Elend in den Selbstmord zu treiben, konnte er sich gleich selbst die Kugel geben. Nein, diesmal würde er keinen Fehler machen.
Sie erzählte ihm, wie sie ihrem Stiefvater nach Hause gefolgt war, wie sie vorgehabt hatte, seiner neuen Frau alles über seine sexuellen Neigungen zu erzählen, und wie sie es sich anders überlegt hatte, als das kleine Mädchen aus dem Haus kam. Dass sie im letzten Augenblick die Nerven verlor, war typisch für Melanie, und es konnte sich als leichtes Hindernis erweisen, wenn er sie dazu bringen wollte, einen ordentlichen Abgang zu machen. Aber das war ein geringfügiges Problem.
»Was hat Sie aufgehalten?«, fragte Bell. »Sie wollten seiner neuen Frau reinen Wein einschenken, warum nicht auch seiner Tochter?«
»Na ja, erstens ist sie erst sechs oder sieben Jahre alt.«
»Sie meinen, eine Sechsjährige sollte so etwas nicht hören?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Über Dinge, die Ihnen angetan wurden, als Sie sieben waren?«
»Ich finde, kleine Kinder sollten von solchen Dingen nicht mal was wissen. Ich meine, würden
Sie
etwa mit einer Sechsjährigen über Oralsex reden?«
»Es sind Ihre Gefühle, die zählen, Melanie.«
»Also, ich werde jedenfalls nicht mit einem kleinen Mädchen über so was reden. Aber was mich aufgehalten hat, war der Schock. Ich meine, es ist ja schon schlimm genug, dass dieser Dreckskerl wieder geheiratet hat und wahrscheinlich seiner neuen Frau das Leben zur Hölle macht. Aber dass er wieder eine Tochter hat! Ich war einfach wie vom Donner gerührt. Um ein Haar wäre ich von einem Auto überfahren worden. Ganz bestimmt macht die Kleine dasselbe durch, was ich damals erlebt hab auf den Angelausflügen, auf dem Boot und an dem Tag, als wir zu WonderWorld gefahren sind.«
Dr. Bell hatte das Gefühl, dass er allmählich die Kontrolle über Melanie verlor. Seine Hände begannen zu schwitzen, und am liebsten hätte er sich auf sie gestürzt, sie gewürgt und ihr ins Gesicht geschrien: »Kapierst du’s denn nicht? Du gehörst hier nicht her! Tu uns allen einen Gefallen und bring dich endlich um!« Es kostete ihn große Mühe, das Pochen in seiner Brust zu unterdrücken. Er beschloss, Melanie aus der Gegenwart fort und zurück in ihr Trauma zu führen.
»Was war das Schlimmste damals? Als Sie ein kleines Mädchen waren. Was war das Allerschlimmste? War es der körperliche Schmerz?«
Melanie schüttelte den Kopf.
Gleich wird sie wieder anfangen, an ihren Fingerknöcheln zu knabbern, dachte Bell.
Als hätte er sie mit seinem Willen dazu gezwungen, hob sie die linke Hand und begann, an ihrem Knöchel herumzuknabbern.
»Eigentlich hat er mir keine körperlichen Schmerzen zugefügt. Nur ein- oder zweimal, wenn er … na, Sie wissen schon. O Gott. Von hinten.«
»Analsex?«
»Äh, ja.«
»Haben Sie
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