Eiskalt Ist Die Zaertlichkeit
Sie war gern bereit, ihre Meinung im Zeugenstand vorzutragen, aber Winters wurde ja nie belangt.«
»Ich werde sie besuchen und mit ihr reden.«
»Geht nicht. Etwa ein halbes Jahr nach Mary Graces Verschwinden ist sie mit dem Auto von der Straße abgekommen. Tot.«
»Ach, du Schande.«
»Sie hat mir die Fotos gegeben.« Farrell deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf Stevens Aktentasche. »Hat mir gesagt, dass sie Mary Grace Frauenhäuser vorgeschlagen habe. Hat ihr Namen und Adressen gegeben. Aber Mary Grace hätte sie nur mit ihren großen, blauen Augen angestarrt und kein Wort gesagt.«
»Ist es möglich, dass Mary Grace mit dem Jungen einfach davongelaufen ist?«
»Ich schätze, alles ist möglich. Aber nach ihrem letzten Sturz – ich glaube, da konnte sie nicht mal eine leere Kaffeetasse hochheben, geschweige denn einem gewalttätigen Ehemann entkommen.« Farrell lächelte, und in seinen durchdringenden Augen glomm etwas auf. »Was haben Sie als Nächstes vor, Detective?«
»Ich will Mary Graces Tagesablauf vor ihrem Verschwinden und Winters Alibi überprüfen.«
Farrell nickte erfreut. »Und dann?«
»Und dann überprüfe ich alle Frauenstationen sämtlicher Kliniken, die in einer oder zwei Stunden per Auto zu erreichen sind, und suche Leute, die Mary Grace als Patientin identifizieren können. Ich möchte belegen, dass es kontinuierlich zu brutalen Gewalttätigkeiten kam. Ich möchte belegen, dass Winters Gelegenheit hatte, seine Frau umzubringen und ihren Wagen im Lake Douglas zu versenken.«
»Überprüfen Sie auch die Kliniken jenseits der Grenze zu Tennessee«, riet ihm Farrell. »Das wäre mein nächster Schritt gewesen.«
»Was ist passiert? Warum wurde die Akte geschlossen?«
»Ich wurde überstimmt. Dixon, Lieutenant Ross’ Vorgänger, glaubte Winters. Zum Teufel, es gab ja Tage, an denen ich selbst versucht war, ihm zu glauben. Er war entweder wirklich ein trauernder Gatte und Vater oder der beste Schauspieler, den ich je gesehen habe.« Er seufzte. »Und kurze Zeit später musste ich in den Ruhestand gehen. Wie auch immer, nach ein paar Monaten hatte Dixon die Akte geschlossen. Die Zeit verging, und die meisten Leute haben die Sache einfach vergessen.«
»Sie nicht«, sagte Steven leise.
Farrell blickte Steven fest ins Gesicht. »Nein, ich vergesse meine Fälle nicht, schon gar nicht, wenn es um verschwundene Kinder geht. Ich sehe immer noch das Gesicht jedes einzelnen vermissten Kindes vor mir, in dessen Fall ich ermittelt habe. Haben Sie Kinder, Thatcher?«
»Ja.« Steven schloss die Augen und sah ihre Gesichter vor sich. »Drei Jungen. Sechs, dreizehn und sechzehn.«
»Und Sie würden nicht zögern, Ihr Leben für sie zu geben.«
»Keine Sekunde.«
»Sharlene und ich haben unser erstes Töchterchen verloren, als es noch ein Baby war. Damals sprach man von Krippentod. Wir hatten später weitere Kinder, aber das Mädchen, das wir verloren haben, vergessen wir nie. Ich betrachte es immer als eine Art persönlichen Angriff, wenn irgendwelche Schweine Kinder missbrauchen.«
»Das kann ich verstehen.« Steven warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss jetzt leider aufbrechen. Möchte mir den Wagen ansehen, den sie in Sevier County aus dem Wasser geholt haben.«
Steven stand auf und ging zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um, als Farrell seinen Namen rief. »Ja?«
»Mich wundert, dass Sie nicht nach der einstweiligen Verfügung fragen.«
Steven drehte sich um, ging zu Farrell zurück und setzte sich wieder. Dann räusperte er sich. »Was meinen Sie?«
»Mary Grace hat am Tag, bevor sie die Treppe ›hinunterstürzte‹, eine einstweilige Verfügung beantragt.«
»Das steht nicht in der Akte«, murmelte Steven.
Farrell blickte überrascht auf. »Interessant.«
»Erzählen Sie, was passiert ist«, bat Steven.
»Mary Grace hatte sich vor neun Jahren, am Tag, bevor sie die Treppe hinunterstürzte, rechtlichen Beistand gesucht und um gerichtlich angeordneten Schutz vor Rob gebeten. Das ist allerdings nie in die Akte aufgenommen worden. Ihr Anwalt hatte dem Richter an einem Mittwochnachmittag den Antrag vorgelegt, der Richter wollte den Antrag prüfen, doch bereits am Donnerstagmorgen hatte der kleine Robbie die Nummer des Notrufs gewählt, weil seine Mutter mit gequetschtem Rückenmark in einer Lache geronnenen Bluts am Fuß der Kellertreppe lag.«
Steven schüttelte fassungslos den Kopf. »Und niemand kam auf den Gedanken, dass etwas faul an der Sache war?«
»Ich
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