Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
nie.«
Er hätte ihr darauf antworten können, dass gerade diese Art von Vorwürfen ihn davon abhielten, seine Eltern häufiger zu besuchen. Aber er bekam keine Gelegenheit, es auszusprechen, denn sie fuhr fort:
»Aber du hältst schon deine Kontrolltermine ein, oder?«
Er zog es vor, sich mit einer weiblichen Leiche beschäftigen zu müssen, als an seine eigene Sterblichkeit erinnert zu werden. Er biss sich auf die Zunge und erklärte ihr so freundlich er konnte, dass er gerade bei der Arbeit sei und sie eine Leiche am Strand gefunden hätten und nach einem vermissten Mädchen im Hafenbecken suchten.
»Die arme Nina.«
»Sagt mir bitte nicht, dass ihr sie kennt?«
Seine Mutter machte das berühmte ›tststs‹.
»Du vergisst wohl immer, wie klein diese Stadt ist. Sie ist mit deiner Cousine in der Grundschule in einer Klasse gewesen.«
»Mit Sanne?«
Er kannte seine Cousine nicht besonders gut.
»Ja, Sanne hat uns auch ein paarmal zusammen mit Nina besucht.«
»Wir sind gleich auf dem Weg nach Grenå, wenn du zu Hause bist, kann ich kurz vorbeikommen.«
Natürlich war sie zu Hause. Wo sollte sie auch sonst sein? Die Rollen in der Ehe seiner Eltern waren sehr klar aufgeteilt. Sein Vater arbeitete als Steuermann bei der Fährgesellschaft, die die Route zwischen Grenå und Varberg in Schweden befuhr. Seine Mutter war immer zu Hause gewesen und hatte sich um die zwei Kinder gekümmert. Nur in Zeiten finanzieller Knappheit hatte sie einen Halbtagsjob am Empfang in einer Zahnarztpraxis angenommen. Sie waren seine Eltern und er mochte sie. Aber er hatte es auch immer gemocht, in einer gesunden Distanz zu ihnen zu wohnen, um so dem Druck ihrer Erwartungen an den Erstgeborenen zu entgehen. Leider hatten auch die Ereignisse der vergangenen Jahre ihre Forderungen und Wünsche nicht gedrosselt.
Er fuhr durch die Stadt in die Siedlung mit den Einfamilienhäusern am Hang und ihn beschlich das Gefühl, dass sein Leben nur einen mittelgroßen Bogen beschrieben hätte und er jetzt wieder am Ausgangspunkt angelangt war. Er fuhr an seiner alten Schule vorbei, in die er mit seinem Bruder gegangen war. Kam an den Elternhäusern seiner alten Kumpel vorbei, an Straßen, auf denen er gespielt hatte und Fahrrad gefahren war. Passierte die Grünflächen, auf denen er mit seinen Freunden Fußball gespielt hatte. Bekannt und doch so fremd. Der verlorene Sohn kehrte heim. In einem mittelmäßigem Film wäre das jetzt das Ende und der Abspann würde folgen. Aber in der Realität sah das alles irgendwie anders aus.
»Hübsches Mädchen«, sagte seine Mutter und stellte Becher auf den Tisch. »Sanne und Nina waren beste Freundinnen, als sie so zwölf, dreizehn waren. Sehr nette Eltern. Sie wohnten damals im Myntevej.«
»Erinnerst du dich, ob sie Geschwister hatte?«
»Ich glaube, eine kleine Schwester.«
»Frohes neues Jahr, Mama.«
Er hob den Becher. Sie neigte den Kopf zur Seite.
»Hattest du einen schönen Abend? Wir haben versucht, dich um Mitternacht zu erreichen.«
»Ja, war ein netter Abend. Ich war in der Stadt unterwegs.«
Er nahm einen Schluck, der Geschmack von gekauftem Sex tauchte auf und er nahm schnell noch einen Schluck, um ihn hinunterzuspülen.
»Aber du hast nicht zu viel getrunken, oder?«
»Nein.«
Er war ziellos durch die Stadt gefahren, mit der weltgrößten Erektion. Er hatte nichts getrunken, sondern nur das eine Ziel vor Augen gehabt: er musste seine Lust einmal auslebenund danach in sich zusammenfallen, aber mit der Gewissheit, dass er noch ein Mensch war. Ein Mann.
Das Mädchen hatte an der Straßenecke unten beim Hafen mit ein paar Kolleginnen zusammengestanden. Allerdings benötigte man in dieser Nacht ein geschultes Auge, um die Professionellen von den aufgedonnerten Mädchen unterscheiden zu können, die trotz Minusgraden in superkurzen Minikleidern, hohen Pumps und kurzen Daunenjäckchen zu den Silvesterpartys unterwegs waren. Er hatte angehalten und die Tür aufgemacht und sie war zu ihm eingestiegen, nachdem sie Preis und Leistung besprochen hatten. Jung. Nicht schön, aber auch nicht hässlich. Am liebsten würde er sich gar nicht an ihr Gesicht erinnern wollen. Auch nicht an ihren Körper. Nur an die Funktion, die er für ihn gehabt hatte.
Danach war er sofort nach Hause gefahren und in dem Moment eingeschlafen, als die Rathausglocken im Fernsehen zwölf Uhr geschlagen hatten und das Neujahrslied »Sei willkommen, Jahr des Herrn« angestimmt wurde.
»Was erinnerst du noch von Nina
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